Interessante Fälle

Autor/Institution:

Dr. Peter Borusiak; Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin, Helios Klinikum Wuppertal

Hintergrund:

Bei Patienten mit symptomatischen fokalen Epilepsien bestehen oft Anfälle, die medikamentös nur schlecht beeinflussbar sind. Dies führt nicht selten zu einer Polytherapie, auch wenn die Nachteile hinreichend bekannt sind. Manchmal wird eine Reduktion der Medikamente aus Angst vor einer Verschlechterung der Anfallssituation (und somit auch der Lebensqualität) nicht konsequent durchgeführt. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass es unmittelbar nach dem Absetzen durchaus zu einer transienten Steigerung der Anfallsfrequenz i.S. von „Entzugsanfällen“ kommen kann.
Die Nachteile vieler Antikonvulsiva in Polytherapie sind gut untersucht. Gerade bei den Antikonvulsiva der älteren Generation gibt es fast immer Interaktionen, die die Steuerung der Therapie erschweren. Die Datenlage über die Auswirkungen bereits einer einzelnen Substanz auf die kognitive Leistungs- und Aufnahmefähigkeit von Kindern ist unzureichend. Dies gilt umso mehr für Kombinationstherapien. Einschränkungen unterschiedlichen Ausmaßes sind zumindest anzunehmen. Eine Anfallsprovokation durch eigentlich antikonvulsiv wirkende Medikamente ist  bezüglich der Anfallsarten z.B. für Carbamazepin bei Absencen, bezüglich der Ätiologie beispielsweise für Vigabatrin bei Patienten mit Angelman-Syndrom gut dokumentiert. Aber auch eine Überdosierung oder ältere Medikamente mit teilweise sedierenden Nebenwirkungen können unabhängig von der Anfallsform oder dem Epilepsiesyndrom eine Zunahme der Anfälle in Frequenz oder Schwere bewirken. Schwierig kann  sich hierbei die Differenzierung vom Spontanverlauf gestalten.

Der Fall:

Nach unauffälliger Schwangerschaft und Geburt bemerkten die Eltern im Alter von zwei Monaten eine leichte Bewegungseinschränkung der rechten Seite. Einen Monat später entwickelt das Mädchen fokale Anfälle (überwiegend Myoklonien). Im MRT zeigt sich ein alter Mediainfarkt links. Die ausführliche ätiologische Abklärung ergibt keine Hinweise auf eine Gerinnungsstörung oder andere zugrunde liegende Erkrankungen. Eine antikonvulsive Therapie mit Phenobarbital erbringt keine ausreichende Besserung. Im weiteren Verlauf werden an einer auswärtigen Klinik, zumeist in Kombinationstherapie Vigabatrin, Primidon, Clonazepam, ACTH und Phenytoin eingesetzt.
Im Alter von 18 Monaten wird das Mädchen mit folgender Medikamentenkombination stationär aufgenommen: Primidon (Serumspiegel 3,0 mg/l, PB 48 mg/l), Clonazepam (0,08 mg/kg/d) und Phenytoin (Serumspiegel 18 mg/l). Bei der neurologischen Untersuchung war u.a. eine eingeschränkte Kopfkontrolle zu beobachten. Freies Sitzen war nicht möglich. Die expressive Sprache bestand aus einzelnen Vokalisationen. Verständliche Worte fehlten. Im EEG zeigte sich eine deutliche Verlangsamung der Grundaktivität, eine zusätzliche regionale Verlangsamung links fronto-zentro-temporal und multiregionale sharp waves (Abb. 1). Die Anfallsfrequenz lag bei ca. 5/d.

Abb. 1

Clonazepam wurde abgesetzt, woraufhin die Anfallsfrequenz auf 6-7/d anstieg. Daraufhin wurde auch Primidon abgesetzt. In der folgenden Woche stieg die Anfallsfrequenz auf 8/d. Ferner wurde klinisch eine Ataxie beobachtet. Der Phenytoinspiegel war auf 27 mg/l angestiegen, so dass auch die Phenytoindosis leicht reduziert wurde. Gut zwei Wochen nach dem Absetzen des Primidon war das Mädchen anfallsfrei (Phenytoinspiegel 10-12 mg/l) und blieb es während des Follow-up von zwei Jahren. Parallel berichteten die Eltern von deutlichen Entwicklungsfortschritten. Im EEG war keine epilepsietypische Aktivität mehr nachweisbar (Abb.2).

Abb. 2

Kommentar und Übersicht:

Die Patientin wurde mit einer Dreifachkombination aufgenommen, bei der bereits die einzelnen Substanzen heutzutage bei Kindern nicht mehr als Standardtherapie eingesetzt werden sollten [BOURGEOIS, VERMEULEN]. Primidon und Clonazepam haben sedierende und kognitiv beeinträchtigende Nebenwirkungen. Die Interaktionen zwischen den drei Medikamenten sind kaum noch voraussehbar. Hier bereitet die nicht-lineare Kinetik des Phenytoin gerade im oberen Dosisbereich zusätzliche Probleme.
Nach der Medikamentenreduktion – zunächst des Clonazepams, dann  des Primidons - kam es jeweils zunächst zu einer Anfallszunahme, die jedoch nicht unbedingt als Hinweis auf eine doch noch vorhandene Wirksamkeit des abgesetzten Medikamentes interpretiert werden darf. Hier wird dann manchmal der Fehler gemacht, das gerade abgesetzte Medikament erneut wieder in die Kombination aufzunehmen. Bei Clonazepam liegt der Prozentsatz der Patienten, bei denen eine rein transitorische Steigerung der Anfallsfrequenz beobachtet wird bei 30-40% [SPECHT]. Bei einigen Patienten lässt sich ein solches „Rebound-Phänomen“ durch eine z.B. auf 10 bis 14 Tage begrenzte Gabe von Azetazolamid (oder Clobazam) auffangen. THEODORE und PORTER konnten zeigen, dass bei einer Untersuchung von 78 Patienten, bei denen Barbiturate und/oder Benzodiazepine abgesetzt wurden, hiervon 82 % profitierten. 
Unsere Patientin hat sowohl auf der Ebene der Anfälle als auch in Bezug auf die Entwicklung profitiert. Welches der beiden Medikamente nun die entscheidende Substanz war (oder beide zusammen) lässt sich nicht sicher differenzieren, da der zeitliche Ablauf diese Unterscheidung nicht zulässt [Übersicht bei BAUER]. Das im Kindesalter auch angesichts des Nebenwirkungsspektrums nicht gerne eingesetzte Phenytoin wurde auf Wunsch der Eltern angesichts der endlich erzielten Anfallsfreiheit weiter fortgeführt.

Literatur:

• Bauer J. Seizure-inducing effects of antiepileptic drugs: a review. Acta Neurol Scand 1996; 94:367-377

• Bourgeois BFD. Antiepileptic drugs, learning, and behavior in childhood epilepsy. Epilepsia 1998; 39: 913-921

• Specht U, Boenigk HE, Wolf P. Discontinuation of clonazepam after long-term treatment. Epilepsia 1989; 30:458-463

• Theodore WH, Porter RJ. Removal of sedative-hypnotic antiepileptic drugs from the regimens of patients with intractable epilepsy. Ann Neurol 1983;  13:320-324

• Vermeulen J, Aldenkamp AP. Cognitive side-effects of chronic antiepileptic drug treatment: a review of 25 years of research. Epilepsy Res 1995; 22:65-95