Interessante Fälle

Autoren:

Dr. S. Konermann, Dr. R. Eger, Prof. A. Hufnagel

Hintergrund:

Die Differentialdiagnose der Epilepsie kann schwierig sein. Je nach Anfallssemiologie können mehrere Erkrankungen als Differentialdiagnosen in Frage kommen. Hier sind oftmals zusätzliche Untersuchungen wie z. B. MRT notwendig, um einen Hinweis auf die Ätiologie der anfallsartigen Störungen zu erhalten.
Eine eher seltene Form der Epilepsie ist die Okzipitallappenepilepsie. Bei ihr kommt u. a auch eine Migräne mit visuellen Auren differentialdiagnostisch in Betracht, zumal in selteneren Fällen auch Auren isoliert auftreten können, ohne dass es hierbei zu Kopfschmerzen kommt.
Ein komplexer Fall einer Okzipitallappenepilepsie mit mehreren Therapieumstellungen und differentialdiagnostischen Erwägungen wird nachfolgend erläutert.

Der Fall:

Eine 29-jährige Patientin stellte sich 1999 wegen des Verdachts auf eine Retrobulbärneuritis ambulant neurologisch vor. Hier wurde die Diagnose bestätigt und die in diesen Fällen übliche stationäre Therapie mit einem Kortikosteroid eingeleitet.
Hierunter kam es zu Komplikationen. Die Patientin entwickelte eine Hirnsinusthrombose, laut dem damaligen Entlassbefund „in mehreren Hirnsinus und einem Großteil der inneren Hirnvenen“. Diese führte zu Stauungsischämien im linken Thalamus sowie rechts parieto-occipital. Als Ursache der Thrombose ergab die nachfolgende umfassende Abklärung eine Punktmutation im Gen des Faktor II. Weitere vaskuläre Risikofaktoren bestanden nicht.
Diese Diagnose führte letztendlich zur Einstellung auf eine Antikoagulation mit Marcumar.
Während des stationären Aufenthalts kam es zu einer einmaligen Episode, während derer die Patientin eine rechtsseitige „Schwere des Armes“ und eine Hypästhesie empfand. Diese war nach Diazepamgabe nach zwei Stunden vollständig reversibel. Zudem bestand während dieser Zeit eine Aphasie.
Zunächst ist der nahe liegende Verdacht der auf eine Epilepsie mit fokalen Anfällen.
Unter dem – letztendlich unbewiesenen – Verdacht auf ein epileptisches Geschehen wurde die Patientin auf eine antikonvulsive Therapie eingestellt, zunächst mit Carbamazepin.

Die Patientin vertrug die Behandlung hiermit jedoch nicht. Sie entwickelte eine allergische Reaktion, so dass sie auf ein anderes Antikonvulsivum umgestellt werden musste. Es wurde nunmehr Valproinsäure gewählt. Das Medikament wurde auf einen Spiegel von 110 mg/l bei 1000 mg/Tag aufdosiert.
Hierunter traten keine weiteren Anfälle der o. g. Semiologie auf.

Im Januar 2000, also ein gutes halbes Jahr später, stellte sich die Patientin ambulant wegen „Sehstörungen“ des linken Auges vor. Sie präzisierte, dass sie ca. 2-6-mal pro Monat ein attackenartiges „Regenbogenfarbensehen“ habe. Einzelne Attacken würden serienartig innerhalb eines Zeitraumes von ca. 10-15 Minuten auftreten.

Es wurde das nachfolgend abgebildete EEG geschrieben.


Man erkennt ein EEG mit einem Alpha-Grundrhythmus. Vor allem rechts okzipital betont findet sich ein Herdbefund im Sinne einer Verlangsamung in den Theta-Delta-Bereich. Epilepsie-typische Potentiale sind nicht zu erkennen.
Dies ist zunächst eine unspezifischer Befund und nicht beweisend für oder gegen eine Epilepsie. Jedoch deutet er auf einen herdförmigen, umschriebenen pathologischen Prozess bzw. eine Läsion hin, so dass eine weitere Abklärung veranlasst wurde.

Im Rahmen dieser weiteren Abklärung wurde eine MRT des Kopfes durchgeführt.
Man erkannte ein Infarktareal von ca. 5x2x2 cm rechts okzipital sowie eines mit ca. 1 cm Durchmesser links frontal. Es fanden sich kein Hinweis auf ein Rezidiv der Sinusvenenthrombose und keine E.D.-typische Läsion (Entmarkungsherde).
Der morphologische Befund einer strukturellen Läsion rechts okzipital passte somit sehr gut zum EEG, das in diesem Bereich einen Verlangsamungsherd gezeigt hatte. In diesem Fall war das EEG insofern diagnostisch wegweisend gewesen.
Die klinische Untersuchung zeigte eine der Läsion entsprechende Quadrantenanopsie nach links oben.

Die beschriebenen visuellen Phänomene wurden dementsprechend als einfach-fokale Anfälle eingeordnet. Dies unterstrich erneut, dass eine antikonvulsive Therapie bei dieser Patientin indiziert war.
Allerdings entwickelten sich auch unter der Valproinsäure im Verlauf Nebenwirkungen, die die Patientin als so belastend schilderte, dass eine Umsetzung der Medikation erwogen wurde. Insbesondere beklagte sie Akne und einen Tremor.
Aufgrund dieser Nebenwirkungen entschloss man sich zu einer Umstellung auf Topiramat 100 mg/d.
Frequenz und Intensität der Anfälle nahmen deutlich ab. Es wurde lediglich ca. 1x pro Monat ein wenige Sekunden andauernder Anfall mit visueller Symptomatik beobachtet. Die Akne bildete sich zurück.
Nach 1,5 Jahren wurde die Dosis des Topiramat leicht auf 75 mg/d reduziert, da eine leichte Müdigkeit als mögliche Nebenwirkung von der Patientin angegeben wurde. Die Frequenz der Anfälle blieb mit 1/Monat jedoch gleich.
Seit nunmehr fast 2 Jahren ist die Patientin mit der gewählten antikonvulsiven Einstellung in Hinblick auf Anfallsfrequenz und Nebenwirkungen zufrieden, so dass ein weiterer Änderungsbedarf nicht gesehen wird.

Kommentar:

Die Unterscheidung zwischen epileptischen und Migräneauren kann bei dieser Symptomatik schwierig sein, wenn nicht – wie in diesem Fall – ein anamnestischer Hinweis auf epileptische Ereignisse vorliegt. Ein Hinweis auf ein epileptisches Geschehen mag die Symptomatik selber bieten, da möglicherweise epileptische Ereignisse eher zu komplexen visuellen Halluzinationen führen können und Migräneauren assoziiert sind mit Flimmern, wandernden Skotomen (dunklen Flecken) und sogenannten Fortifikationsspektren (verstärkte Sehwahrnehmung entlang von Linien).
Ischämien würden sich im Gegensatz hierzu nicht durch visuelle Plusphänomene wie z.B. Farb- oder Blitzhalluzinationen sondern durch Minussymptome, d.h. konstante Gesichtsfelddefekte z.B. als Hemianopsien oder Quadrantenanopsien manifestieren.

In diesem Fall ist die wahrscheinlichste Diagnose die Epilepsie. Die Symptomatik könnte zwar auch von einer Migräneaura herrühren, die zu ähnlichen Wahrnehmungen führt. Angesichts der Vorgeschichte ist dies jedoch eher unwahrscheinlich. Zudem passen das einen fokalen Herdbefund aufweisende EEG und die MRT zu diesem Verdacht.

Dieser Fall zeigt exemplarisch die oft schwierige Differentialdiagnose der Okzipitallappenepilepsie.
Wenn die Differentialdiagnose zwischen einer Epilepsie und einer Migräne bei einer nahezu gleichen Symptomatik nicht eindeutig möglich ist, weil ein unspezifischer EEG-Befund vorliegt und keine morphologischen Auffälligkeiten richtungweisend sind, sollten Valproinsäure und Topiramat bevorzugt angewendet werden, da sie sowohl antikonvulsiv als auch als Migräne-prophylaktisch wirken.
Eine umfassende Diagnostik kann bei komplexen Problematiken einem spezialisierten Zentrum vorbehalten sein.


Literatur:


• Arroyo S, Squires L, Twyman R. Topiramate (TPM) monotherapy in newly diagnosed epilepsy: effectiveness in does-response study. Epilepsia 2002 Suppl 8: 47-48
• Deckers CL, Czuczwar SJ, Hekster YA, Keyser A, Kubova H, Meinardi H, Patsalos PN, Renier WO, Van Rijn CM. Selection of antiepileptic drug polytherapy based on mechanisms of action: the evidence reviewed. Epilepsia. 2000;41(11):1364-74.
• Gilliam F, Reife R, Wu SC. Topiramate monotherapy: randomized controlled trial in patients with newly diagnosed epilepsy. Neurology 1999;52(Suppl. 2):A248.
• Privitera MD, Brodie MJ, Mattson RH, Chadwick DW, Neto W, Wang S; EPMN 105 Study Group Topiramate, carbamazepine and valproate monotherapy: double-blind comparison in newly diagnosed epilepsy. Acta Neurol Scand 2003 Mar;107(3):165-75.