Interessante Fälle

Autor/Institution:

Prof. Dr. A. Hufnagel, Neurologische Universitätsklinik Essen

Psychiatrische Veränderungen, vor allem Depressionen, seltener Manien und Psychosen, die nach epilepsiechirurgischen Eingriffen auftreten wurden bereits mehrfach beschrieben. Überwiegend handelt es sich dabei um Eingriffe am Temporallappen. Der vorliegende Fallbericht handelt von einer Patientin bei der sich unmittelbar nach einer selektiven Amygdalo-hippokampektomie rechts eine schwere, absolut therapieresistente Depression entwickelte, in deren Folge es auch zu einer Zerrüttung des sozialen Umfelds der Patientin kam.

Vorgeschichte:

Die Patientin kam im Alter von 39 Jahren zur prächirurgischen Evaluation. Zu diesem Zeitpunkt war zu erfahren, dass Schwangerschaft und Geburt sowie die frühkindliche Entwicklung normal verlaufen waren. Etwa im 4. Lebensjahr hatte die Patientin lang anhaltende schwere Fieberkrämpfe. Während der Pubertät trat ein erster sekundär-generalisierter tonisch-klonischer Anfall auf. Nach zunächst unauffälligem Verlauf traten weitere Grand mal-Anfälle im Alter von 25 und 27 Jahren jeweils nach einer Schwangerschaft auf. Hiernach kam es allmählich zur Häufung einfach-fokaler Anfälle mit epigastrischen Auren und Missempfindungen des linken Armes sowie 2-4 Grand mal-Anfälle pro Jahr. Die Familienanamnese war bezüglich Krampfanfälle unauffällig.

Im Alter von 39 Jahren wurde von 3 Anfallstypen berichtet.

Typ 1:  Zu Beginn Unruhe, von Brust und Halsbereich aufsteigendes Unwohlsein mit crescendo- Charakter. Teilweise zusätzlich schmatzende Laute. Keine Bewusstseinsstörung. Diese Anfälle dauern maximal eine Minute und treten mit einer Frequenz von 10 bis 15 mal pro Tag auf bis zum Einsetzen ihrer Menstruation. Während der Menstruation und eine Woche danach hat die Patientin keinen Anfall dieser Art.

Typ II: Zu Beginn Unruhe, von Brust und Halsbereich aufsteigendes Unwohlsein wie Typ I. Kopfdrehung nach rechts, starrer Blick, Verkrallen beider Hände, Bewusstseinsstörung. Diese Anfälle dauern Minuten und treten unabhängig von der Periode mit einer Frequenz von 10 bis 20 Anfällen pro Monat auf.

Typ III: Plötzlicher Sturz, Kopfdrehung nach rechts, starrer Blick, Verkrallen beider Hände, generalisierte tonisch klonische Entäußerungen, Bewusstseinsstörung. (Als Kind Enuresis und Zungenbiss). Postiktal teilweise massive Kopfschmerzen rechts. Diese Anfälle dauern Minuten und treten bis zu zweimal im Monat auf.

Der klinisch-neurologische Untersuchungsbefund war regelrecht. Auch bezüglich psychiatrischer Vorerkrankungen ergaben sich keinerlei Auffälligkeiten.

Kernspintomographisch wurde eine hippokampale Sklerose rechts festgestellt. Die Langzeit-EEG-Aufzeichnungen erbrachten einen inkonstanten Verlangsamungsherd rechts temporal und den Nachweis von epilepsietypischen Potentialen rechts temporal (Schwerpunkt bei F8 und T4).

Bei einer PET-Untersuchung ließ sich ein Hypometabolismus im rechten Temporallappen darstellen.

Die neuropsychologische Testung erbrachte eine herabgesetzte Verarbeitungsgeschwindigkeit von Informationen. Der Umfang des Arbeitsgedächtnisses war eingeschränkt und das Figuralgedächtnis deutlich beeinträchtigt. Die Fähigkeiten im räumlich-konstruktiven Bereich waren ebenfalls reduziert. Beeinträchtigungen des verbalen Gedächtnisses ließen sich demgegenüber nicht nachweisen. Die neuropsychologischen Befunde korrelierten somit insgesamt mit der Lokalisation des rechts temporalen Herdes.

Verlauf:

Etwa ab dem 25. Lebensjahr hatte sich eine Therapieresistenz eingestellt. Trotz hochdosierter Gabe von  Carbamazepin, Phenytoin, Lamotrigin und Topiramat konnte keine Anfallsfreiheit erzielt werden. Gabapentin musste wegen der Ausprägung von Doppelbildern und Dysarthrie abgesetzt werden.

Im Alter von 39 Jahren wurde eine selektive Amygdalohippokampektomie rechts durchgeführt. Während der ersten 1 ½ postoperativen Jahre traten keine Anfälle mehr auf. Danach ereigneten sich einfache Auren im Sinne einer epigatrischen Übelkeit. Es wurde auf zunächst Lamotrigin 3 x 25 mg/Tag in Kombination mit Valproinsäure 3 x 300 mg/Tag eingestellt, worunter die Patientin zunächst weitere 1 ½ Jahre anfallsfrei war. Hiernach traten wohl einzelne komplex-fokale Anfälle mit Bewusstseinsstörung auf.
Im Vordergrund der Beschwerden stand postoperativ eine Depression, die nach der Operation zu einem Selbstmordversuch führte. Behandlungen mit  Amitriptylin 25 – 75 mg, Imipramin (unbekannte Dosierung) Cipramil 40-0-0 mg/Tag und Maprotilin (z.B. Ludiomil®)  25 – 50 mg sowie Opipramol (Insidon®) 0-0-0-2 Tbl. wegen Schlafstörungen erbrachten keine Besserung. Monatelang war die depressive Symptomatik assoziiert mit Antriebsstörung, einem Morgentief und Gereiztheit. Zu diesem Zeitpunkt wurde offenkundig, dass die Patientin auch über längere Zeit Benzodiazepine eingenommen hatte. Die nach der Operation durchgeführte neuropsychometrische Reevaluierung ergab objektivierbare Leistungseinbussen in den Bereichen des Kurzzeit- und Arbeitsgedächtnisses für visuelle Information und der selektiven Aufmerksamkeit, keinerlei Beeinträchtigung bei dem Kurzzeitgedächtnis von Zahlenreihen oder Wortpaaren. Im Vergleich zu präoperativ erzielte die Patientin sogar bessere Ergebnisse im Benton-Test, im Bereich der Zahlenmerkspanne und verschiedenen Untertests des Leistungsprüfungssystems zur räumlichen Vorstellung. Insgesamt ergaben sich neuropsychologisch keine bedeutsamen Veränderungen zu den neuropsychologischen Vorbefunden.

Schwere Depressivität:
Untersuchende Ärzte beobachteten eine Instabilität, Gefühlskälte, zum Teil Aggressivität, und sozialer Regression. Der Kontakt zu ihren Kindern war abgebrochen, sie verließ ihren Ehemann und lebt allein.

Kommentar:

Bei dieser Patientin entwickelte sich über Jahrzehnte eine multiresistente Temporallappen-Epilepsie rechts mit Hippokampussklerose. Die präoperative Evaluation war eindeutig und wies auf den rechts temporalen Herd hin. Nach der Operation verblieb die Patientin zunächst 1 ½ Jahre anfallsfrei und war auch im Weiteren bezüglich der Häufigkeit und Schwere der Anfälle deutlich gegenüber dem präoperativen Ausgangsbefund gebessert. Die Gedächtnisleistung war im Vergleich zu präoperativ nicht wesentlich beeinträchtigt. Manche Gedächtnisleistungen zeigten sogar eine Verbesserung. Ganz im Vordergrund des postoperativen Verlaufes stand eine schwere therapieresistente Depression, die die Lebensqualität der Patientin dauerhaft herabsetzte, zu einem Selbstmordversuch führte und zur sozialen Zerrüttung ihrer Familie.
Obgleich das Auftreten postoperativer Depressionen nach Eingriffen im Bereich des Schläfenlappens schon von einigen Autoren beschrieben wurde, handelt es sich jedoch meistens um leichtergradige oder vorübergehende Depressionen. Die Behandelbarkeit mit Antidepressiva ist zumeist sehr gut. Nicht so im vorliegenden Fall. Die Aufklärung über die Möglichkeit einer schweren postoperativen Depression muss von daher verstärkt in die Aufklärung vor der Operation einbezogen werden.

Literatur:

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