Interessante Fälle
Autor/Institution:
Prof. Dr. A. Hufnagel,
Ltd. Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik Essen
Vorgeschichte:
Jonas H. wurde von seinem Freund morgens um 08.00 Uhr tief bewusstlos auf dem Küchenboden liegend aufgefunden. Er war weder durch Anrufen noch durch Rütteln erweckbar, die Augen waren leicht nach oben gedreht. Aus seinem Mund floss Speichel. Äußere Verletzungen waren nicht erkennbar. Die Beiden hatten zusammen mit Freunden bis etwa 02.00 Uhr morgens gefeiert und waren dann schlafen gegangen. Es war zu erfahren, dass nur wenig Alkohol und keine Drogen konsumiert worden waren.
Jonas H. wurde mit dem Notarztwagen in das nächstgelegene Krankenhaus eingewiesen und erwachte noch auf dem Transport. Es folgte ein Umdämmerungszustand mit starker Agitation, so dass er medikamentös sediert werden musste. Später war zu erfahren, dass er auch in den beiden vorausgegangenen Nächten nur zwischen 3 und 6 Stunden geschlafen habe, da er im Internet gewesen sei, um zu spielen und zu chaten. Nachdem er im Krankenhaus etwa 3 Stunden später die volle Orientierung wieder erlangt hatte, konnte er zudem über weitere 4 Episoden berichten, bei denen er morgens ausfahrende zuckende Bewegungen mit den Armen beobachtet habe. Einmalig habe er dabei eine Müslischale quer durch die Küche geschmissen, beim zweiten Mal sei ihm ein Löffel aus der Hand gefallen. Er habe während dieser Attacken einen kurzen Lidschluss, nicht aber eine Bewusstseinsstörung vermerkt.
Die übrige Vorgeschichte war vollkommnen unauffällig, lediglich sei es in der frühen Jugend zweimalig zu einer Commotio cerebri gekommen.
Auch in der Familienanamnese fanden sich keinerlei Hinweise auf Anfallsleiden.
Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung fand sich ein lateraler Zungenbiss, der darüber hinausgehende neurologische Untersuchungsbefund war regelrecht. Auch psychiatrisch bestanden keinerlei Auffälligkeiten.
Labordiagnostik:
Eine CK-Erhöhung auf 607 mg/dl war auffällig.
Apparative Diagnostik:
Eine Kernspintomographie des Kopfes war unauffällig.
Im EEG fanden sich bereits in Ruhe mehrfach Paroxysmen von 1-3 Sekunden Dauer mit generalisierter bifrontal betonter 3/sec. spike-wave-Aktivität. Unter Flickerlichtprovokation fanden sich insgesamt 8 Paroxysmen mit generalisierter 3-4/sec. spike-wave und poly-spike-wave-Potentiale.
Abbildung 1 zeigt bilateral synchrone spike-wave-Paroxysmen unter Photostimulation.
Beurteilung:
Trotz fehlender Fremdbeobachtung musste angesichts des klinischen Verlaufes mit initialer hochgradiger Bewusstseinsstörung, dann Umdämmerung und Reorientierungsphase von einigen Stunden sowie dem lateralen Zungenbiss von einem generalisierten tonisch-klonischen Anfall ausgegangen werden. Die kleineren Anfälle an den Armen können mühelos als myoklonische Anfälle einhergehend mit Lidmyoklonien ohne Bewusstseinsverlust eingeordnet werden. Dieser Anfallstyp wurde früher auch als Impulsiv Petit mal bezeichnet.
Bei diesem epileptischen Syndrom ist die oben beschriebene generalisierte, bifrontal synchrone 3-4/Sekunden Dauer spike-wave- und poly-spike-wave-Aktivität wegweisend und sehr häufig korreliert.
Verlauf:
Es konnte schon initial die Diagnose einer juvenilen myoklonischen Epilepsie mit einmaligem generalisierten tonisch-klonischen Anfall und myoklonischen Anfällen gestellt werden. Es wurde eine antikonvulsive Einstellung zunächst auf Lamotrigin mit einer vorläufigen Dosierung von 50-0-50 mg/Tag begonnen. Neben Lamotrigin sind Valproinsäure und Topiramat Mittel der ersten Wahl bei der juvenilen myoklonischen Epilepsie. Es wurde empfohlen die bereits begonnene Führerscheinausbildung abzubrechen. Ob im Weiteren eine Fahrtauglichkeit besteht ist frühestens nach einem Jahr anhand des Kriteriums der Anfallsfreiheit zu entscheiden. Neben der medikamentösen Therapie wurde angeraten für ausreichend Nachtschlaf zu sorgen und Flickerlichtprovokationen möglichst zu meiden.
Kommentar
Insgesamt handelt es sich im vorliegenden Fall um eine typische Erstpräsentation einer juvenilen myoklonischen Epilepsie. Zu beachten ist, dass häufig gezielt nach den kleineren myoklonischen Anfällen gefragt werden muss, da manche Patienten nicht spontan über diese berichten. In aller Regel ist das Syndrom gut behandelbar und bei ca. 80% Anfallsfreiheit erzielbar. Die Behandlung ist aufgrund der genetischen Prädisposition jedoch stets über viele Jahre fortzusetzen und muss häufig zeitlebens Aufrecht erhalten werden.
Literatur:
Genton P, Gélisse P. Juvenile myoklonische Epilepsie. In.: Fröscher, Vasella, Hufnagel (Hrsg.) Die Epilepsien, Schatthauer, Stuttgart, New York 2004:181-184.