Interessante Fälle
Autor/Institution:
Prof. Dr. A. Hufnagel
Neurologische Universitätsklinik Essen
Hufelandstr. 55, 45122 Essen
Vorgeschichte:
Eine Mutter kam mit ihrem 17-jährigen Sohn Tobias in die Sprechstunde, nachdem dieser am Vortage bei einer Blutentnahme kollabiert war. Er sei noch während der Blutentnahme plötzlich ohnmächtig geworden, habe nicht mehr auf Ansprache reagiert, habe tonische Verkrampfungen an beiden Amen und beiden Beinen für die Dauer von ca. 30-60 Sekunden ohne klonische Entäußerungen gezeigt. Gleichzeitig sei es zu Einnässen gekommen, ein Zungenbiss fehlte. Auf direktes Befragen gab Tobias an, zunächst ein flaues Gefühl im Magen gehabt zu haben, es sei ihm dann „schwarz vor den Augen“ geworden. Er könne sich hiernach an nichts mehr erinnern, sei jedoch noch im Blutentnahmestuhl sitzend wieder zu sich gekommen. Er habe die Situation sofort erfasst, sei demzufolge nicht umdämmert gewesen und gefragt, was denn los gewesen sei. Die Mutter des Patienten befürchtete, dass es jetzt erstmalig zu einem generalisierten epileptischen Anfall gekommen sei. Auf genaues Befragen ließen sich etwa 15 Ereignisse mit Bewusstseinsverlust, zum Teil während Blutentnahmen, zum Teil aber auch bei langem Stehen eruieren. Nie sei es jedoch zu tonischen Verkrampfungen gekommen. In der Kindheit seien zwei Fieberkrämpfe von kurzer Dauer (maximal 3 Minuten) bei hohem Fieber aufgetreten.
Seit Jahren sei ein niedriger Blutdruck mit teilweise nur 80/90 mm Hg systolisch auffällig.
Diagnostik:
Der klinisch-neurologische wie auch der psychiatrische Untersuchungsbefund waren regelrecht.
Das EEG ergab einen normalen Alphagrundrhythmus ohne Herdbefund und ohne Nachweis epilepsietypischer Potentiale, auch das Schlafentzugs-EEG war regelrecht.
Die Kernspintomographie des Kopfes war ohne pathologischen Befund.
Beurteilung und Verlauf:
Das Ereignis wurde als konvulsive Synkope eingestuft. Dies geschah vor allem angesichts rezidivierender gleichartiger Ereignisse in der Vorgeschichte und bei bekannter arterieller Hypotonie. Offensichtlich war es zu einer besonders heftigen Synkope gekommen, die die tonische bilaterale Verkrampfung hervorgerufen hatte. Dem Patienten wurde blutdruckstützende Maßnahmen in Form von salzreicher Kost, morgendlichem kalten Duschen und mehrfach wöchentlichem Ausdauersport angeraten. Eine kardiologische Abklärung war bereits in der Vergangenheit erfolgt. Weiterführende Maßnahmen, insbesondere medikamentös blutdruckstützende Therapien waren in der Initialphase nicht notwendig.
Kommentar:
Die konvulsive Sykope ist eine wichtige Differentialdiagnose der Epilepsie. Insbesondere bei schlechter oder fehlender Fremdbeobachtung des Ereignisses wird in der Praxis häufig fälschlicherweise die Diagnose „erster epileptischer Anfall“ gestellt. Die tonischen Verkrampfungen dauern in aller Regel nur einige Sekunden können jedoch bis zu einer Minute anhalten, auch bilaterale chronische Verkrampfungen können auftreten. Die Anfallsereignisse sind auf die grenzwertige Perfusion des Gehirnes zurückzuführen. Häufig finden sich Hinweise auf vasovagale Ereignisse wie Schreck, Miktion oder langes Stehen. Eine antikonvulsive Medikation ist in keinem Falle notwendig und hilfreich. Eine kardiologische Abklärung sollte unbedingt erfolgen um kardiale Arrhythmien etwa im Sinne von Adam Stokes Anfällen oder ein Long-QT-Syndrom auszuschließen. Das EEG ist hilfreich, wenn es zum Nachweis epilepsietypischer Potentiale kommt. Dies würde die Diagnose eher in Richtung stattgehabter epileptischer Anfall lenken. Es ist jedoch auch nicht beweisend für das Vorliegen einer Epilepsie. Die anschließende Tabelle gibt eine Übersicht über Faktoren, die eher für einen epileptischen Anfall oder eher eine Synkope sprechen.
Kriterium |
Für Synkope |
Für Epilepsie |
Unmittelbarer Auslöser |
50% der Fälle z. B. cardiogen oder situativ: Schreck, Miktion, langes Stehen |
Sehr selten, z. B. Reflex-epilepsie |
Aura |
Selten, Schwächegefühl |
Häufig z. B. déja vu, Angst, sensorische Halluzinationen |
Attackenbeginn |
Schwarzwerden vor den Augen oder „milchig“ sehen |
Neurologische Herdsymptome |
Sturz |
Zumeist atonisch, selten tonisch |
Zumeist tonisch, selten atonisch |
Verletzungen |
Hämatome, Platzwunden |
Platzwunden, Frakturen |
Augen |
Zumeist offen |
Zumeist Offen |
Myoklonien |
Zumeist keine, selten leicht bis mäßig ausgeprägt arrhythmisch, Dauer meist < 30 Sekunden |
Rhythmisch, generalisiert, zum Anfallsende ausschlagend |
Inkontinenz |
Häufig |
Häufig |
Zungenbiss |
Sehr selten, Zungenspitze |
Häufig, laterale Zunge oder Wange |
Bewusstseinsstörung |
Zumeist vollständig, selten unvollständig |
Zumeist vollständig, selten unvollständig |
Attackenende |
Rasche Reorientierung |
Umdämmerung für Minuten bis Stunden, Müdigkeit |
Attackendauer |
< 30 Sekunden, selten länger |
1-2 Minuten (motorische Entäußerungen) |
Literatur:
Thomas Mayer. Differentialdiagnose der Epilepsie – Synkopale Störungen In.: Fröscher, Vassella, Hufnagel (Hrsg.) Die Epilepsien 2. Auflage 2004, Schattauer Verlag, Stuttgart, New York, 2004 460-467.