Interessante Fälle

Autor/Institution

Prof. Dr. Gerhard Kurlemann
Universitäts-Kinderklinik Münster

Schlüsselwörter:

- epileptische Anfälle, hemiplegische Migräne, nebenwirkungsreiche antiepileptische Behandlung –


Der Fall:

Es handelt sich um das zweite Kind gesunder Eltern, die ältere Schwester ist gesund.
Keine familiär vorkommenden neurologische Erkrankungen, insbesondere keine familiäre Epilepsiebelastung. Unauffällige Schwangerschaft und Geburt am errechneten Termin. Im Befund fand sich ein Naevus flammeus im Bereich des 1.+ 2. Trigeminusastes rechts. Die übrige Haut war unauffällig.

Welche weiteren Untersuchungen sind angesichts des Hautbefundes post partal sinnvoll und notwendig ? 

1. augenärztliche Untersuchung zum Ausschluss eines gleichseitigen Glaukoms
2. Ableitung eines EEGs
3. Zerebrale Kernspintomographie / CCT
4.  Beginn einer krankengymnastischen Behandlung zur Prophylaxe einer sich eventuell entwickelnden Hemiparese

Kommentar:
1. Bei dem Neugeborenen besteht ein Sturge – Weber Syndrom (SWS). Die Ausbreitung des Naevus flammeus im Bereich des 1.+ 2. Trigeminusastes ist mit einem  70 % Risiko für die Manifestation eines ipsilateralen Glaukoms und einem 80 % Risiko für die Maniestation einer Epilepsie verbunden. Ist nur das Ausbreitungsgebiet des 1. Trigeminusastes vom Naevus bedeckt, besteht kein erhöhtes Glaukomrisiko, das gleiche gilt auch für eine zerebrale Beteiligung. 
Daher war im vorliegenden Fall eine augenärztliche Untersuchung mit Messung des Augeninnendruckes schon bald nach der Geburt notwendig zum Ausschluss oder Nachweis eines Glaukomes mit entsprechend notwendiger Therapie zur Erhaltung der Sehkraft. Sollte der Augeninnendruck bei der initialen Untersuchung im Normbereich liegen, sind dennoch regelmäßige Augeninnendruckmessungen zwingend notwendig.
Der Augeninnendruck am dritten Lebenstag in unserem Fall war normal. 
 
2. Das Risiko für eine Epilepsie bei Ausbreitung des Naevus flammeus im 1. + 2, Trigeminusast beträgt 80 %  bis zum Ende des 1. Lebensjahres. Eine antiepileptische Behandlung wird aber erst eingeleitet nach wiederholtem Auftreten epileptischer Anfälle.
Auch bei Fehlen epileptischer Anfälle ist eine EEG – Ableitung  zur Statuserhebung und bei hohem Risiko für das Auftreten epileptischer Anfälle im vorliegenden Fall schon bald post partal sinnvoll.
Folgender EEG - Befund ergab sich postpartal in unserem Fall: rechts parieto – okzipitale Amplitudenminderung ohne epilepsietypische Potentiale.

3. Im Gegensatz zur EEG – Ableitung ist ein zerebrales MRT eine invasive Untersuchungsmethode, die nur dann durchgeführt werden sollte, wenn sich entsprechende diagnostische und therapeutische Konsequenzen ergeben würden. Die Invasivität beruht auf der Notwendigkeit zur Sedierung und ggf. Beatmung des Kindes um eine artefaktfreie Ableitung des MRT zu ermöglichen.
Im vorliegenden Fall wurde bei Naevusausbreitung im 1. + 2. Trigeminusbereich mit sonst unauffälligem klinischen Befund, fehlendem Glaukom und „nur“ seitendifferentem EEG – Befund kein zerebrales MRT zeitnah zur Geburt durchgeführt.  

4. Eine prophylaktische  Krankengymnastik einer sich eventuell im Verlauf entwickelnden Hemiparese ist sinnlos und sollte niemals veranlasst werden.
Im vorliegenden Fall wurde Krankengymnastik natürlich nicht begonnen.

Im Alter von3 ½ Jahren trat erstmals ein fokal motorischer Anfall auf mit lang anhaltenden Myoklonien des linken Armes und Beines bei erhaltenem Bewusstsein. In der erstversorgenden Klinik wurde eine antikonvulsive Behandlung mit Phenhydan  (DPH) begonnen. Es erfolgte die Vorstellung zur Mitbeurteilung in unserer Klinik mit dem folgenden Untersuchungsbefund: 3 1/2jähriger Knabe mit einem blassen Naevus flammeus im Ausbreitungsgebiet des 1.+ 2. Trigeminusastes rechts. Übrige Haut unauffällig. Kein Glaukom rechts. Keine Hemiparese links. Mental - alters entsprechend.

Wie würden Sie weiter vorgehen ?
1. EEG – Ableitung ?
2. zerebrale Bildgebung: MRT / CCT ?
3. antikonvulsive Behandlung ?

1. Zunächst sollte eine EEG – Ableitung erfolgen zur Einschätzung der zerebralen Anfallsbereitschaft: folgende Befunde wurden erhoben: Wach – EEG mit altersphysiologischem Befund bis auf eine Amplitudenminderung rechts parieto – okzipital. Schlaf – EEG: verminderte Schlafspindeln rechts; paroxysmale spike wave Gruppen rechtshemisphärisch.
2. Zur Beurteilung der leptomeningealen Situation bei Sturge – Weber Syndrom ist jetzt nach dem 1. epileptischen Anfall die Durchführung einer zerebralen Bildgebung notwendig. Folgender Befund wurde erhoben: Erweiterung der tiefen Hirnvenen rechts; Plexusvergrößerung rechts; nur geringe Kontrastmittelbelegung epicortikal rechts parieto – okzipital als Ausdruck einer leptomeningealen Angiomatose ohne begleitende Atrophie des darunter liegenden Cortex.
3. Es handelt sich um den ersten symptomatischen fokal motorischen epileptischen Anfall bei zu Grunde liegendem Sturge – Weber Syndrom. Bei der Ausbreitung des Naevus flammeus im 1. + 2.Trigeminusast ist das Rezidivrisiko für epileptische Anfälle sehr hoch, so dass eine antikonvulsve Behandlung  bereits nach dem 1. Anfall sinnvoll ist. Mit einzubeziehen bei Kindern ist immer auch die Meinung der Eltern!
Zur Therapie fokaler oder fokal sekundär generalisierter epileptischer Anfälle im Kindesalter stehen Sultiam, Carbamazepin (CBZ), Oxcarbazepin (OXC) und DPH zur Verfügung. In Abhängigkeit des EEG – Befundes auch Valproat (VAL), bei Säuglingen selbstverständlich auch Phenobarbital.

Mittel der 1.Wahl zur Therapie fokaler epileptischer Anfälle im Kindesalter sollte auf Grund des günstigen Nebenwirkungsspektrums zunächst Sultiam in einer Dosis von 5 – 10 mg/ kg KG sein. Ein langsames Eindosieren von Sultiam ist in der Regel nicht nötig, die Kinder vertragen den Begin mit 5 mg/kg KG sehr gut.
Gerade bei symptomatischen fokalen epileptischen Anfälle kann DPH sehr effektiv sein, aber nicht als Mittel der 1. Wahl.
Nach Versagen von Sultiam ist gerade bei Kindern OXC wegen seines günstigeren Nebenwirkungsspektrums dem CBZ vorzuziehen.

Unter DPH - Monotherapie trat im vorliegenden Fall keine Anfallsfreiheit ein, im Gegenteil, die Anfallssemiologie änderte sich mit Auftreten komplexer Partialanfälle. Im Rahmen eines Status epilepticus erfolgte die erneute stationäre Aufnahme und Diagnostik im Alter von 5 Jahren.
Das EEG zeigte nach Beendigung des Status eine rechts hemisphärische sharp wave Aktivität mit lebhafter Generalisierung.
In dieser Phase der Verschlechterung der Epilepsie ließ sich MR – tomographisch eine signifikante Zunahme des leptomeningealen Befundes rechts parieto – okzipital nachweisen. Im nativen CCT fand sich in gleicher Lokalisation eine feinschollige kortikale und subkortikale Verkalkung (Erstuntersuchung in diesem Alter).

Wie würden Sie angesichts der Verschlechterung der epileptischen Situation weiter vorgehen ?
1. Planung eines epilepsiechirurgischen Eingriffes ?
2. Umstellung der antiepileptischen Medikation durch Wahl eines anderen fokal wirksamen Medikamentes ?

Kommentar:
1. Bei therapieresistenter Epilepsie im Rahmen eines SWS muss frühzeitig auch an die Möglichkeit eines epilepsiechirurgischen Eingriffes gedacht werden. Je frühzeitiger die Kinder mit therapieresistenter Epilepsie operiert werden, desto besser ist das psychomentale Outcome.
2. Da unter einer Ausdosierung des erstem antikonvulsiven Medikamentes DPH keine Anfallsfreiheit erzielt wurde, ja sogar ein Status epilepticus auftrat, der mit Clonazepam rasch unterbrechbar war, erfolgte wegen der zunehmenden Generalisierung der Anfallsbereitschaft im EEG eine Umstellung der Medikation von DPH auf VAL-Monotherapie. VAL bietet sich an, da es nicht nur wirksam ist bei generalisierten Anfällen, sondern ebenso wirksam bei fokalen epileptischen Anfällen.

Unter der VAL - Monotherapie war der Patient 2 Jahre anfallsfrei! Regelmäßige EEG – Kontrollen zeigten ein saniertes EEG mit den bekannten Zeichen der Seitendifferenz zu Ungunsten rechts parieto – okzipital.
Im Alter von 7 Jahren trat erstmals eine Migräne auf mit starken Kopfschmerzen und Erbrechen auf. Dieser Migräne war unter der antiepileptischen Behandlung mit VAL ein fokal motorischer Anfall vorausgegangen. Der  fokal motorische Anfall sistierte spontan, die Migräne klang ohne Schmerzmedikation ab. Nach diesem Ereignis wurde die VAL - Dosis von 20 mg/kg KG auf 30 mg / kg KG erhöht. Der weitere Verlauf gestaltete sich bezgl. der Epilepsie unkompliziert, es traten weder epileptische Anfälle noch Migräneanfälle auf. Die VAL - Monotherapie wurde bis auf eine Gewichtszunahme von 20 kg in 3 Jahren nebenwirkungsfrei vertragen.

Wie würden Sie sich bezgl. der Gewichtszunahme verhalten ?
1. Beibehaltung der Therapie ?
2. Umsetzen der Therapie ?

Kommentar:
1. Die Gewichtszunahme unter VAL ist eine bekannte Nebenwirkung, die sich nur schwer beeinflussen lässt. Die Eltern wünschten wegen des nun beschwerdefreien Verlaufes keine Umstellung, so dass sich weitere Überlegungen der Therapiemodifikation erübrigten.

Im Alter von 14 Jahren wog der Patient nun 78 kg bei einer Körpergröße von 166,5 cm. Innerhalb von 4.5 Jahren war unter VAL eine Körpergewichtszunahme von 46 kg eingetreten.

Nach 4jähriger Gesamtbeschwerdefreiheit bis auf die extreme Gewichtszunahme, die aber wegen des guten klinischen Befindens toleriert wurde, traten innerhalb von 9 Monaten 3 lang anhaltende hemiplegische Migräneanfälle auf -  eingeleitet mit stärksten Kopfschmerzen rechts, Kribbelparästhesien des linken Armes mit Übergang in eine schlaffe Parese des linken Armes für 2 Tage. Die Eltern behandelten die Kopfschmerzen mit 1000 mg ASS, wodurch sie sich nur lindern ließen, aber nicht sistierten. Die linksseitige Parese wurde vom Patienten als sehr bedrohlich empfunden. Die Hemiparese innerhalb des letzten hemiplegischen Migräneanfall bildete sich erst nach 7 Tagen komplett zurück.
Während dieser  Akutphasen waren die EEGs immer ohne kontinuerliche Anfallsbereitschaft.
 
Wie würden Sie angesichts dieser Entwicklung des klinischen Bildes und der extremen Gewichtszunahme von 46 kg innerhalb von 4 Jahren vorgehen?

1. Umstellen der antiepileptischen Medikation von VAL auf Lamotrigin wegen der Gewichtsproblematik?
2. VAL gegen Topiramat austauschen?
3. Belassen der VAL – Monotherapie, da anfallsfrei und Behandlung der Migräne mit Triptanen?

1. Die Gewichtzunahme unter VAL ist gerade bei pubertären und postpubertären Jugendlichen eine sehr unerwünschte Nebenwirkung, die in 40 – 50 % der Fälle eintritt, deren Ätiologie noch unklar ist. Erfahrungsgemäß sind diätetische Maßnahmen nur bei extrem disziplinierten Jugendlichen Erfolg versprechend. Obwohl VAL auch als probates Mittel zur Behandlung der Migräne eingesetzt wird, sind die hemiplegischen Migräneanfälle im vorliegenden Fall dennoch aufgetreten.
Dies mag mit der Grunderkrankung des SWS zusammenhängen. Transiente neurologische Defizite bei Patienten mit SWS können bedingt sein durch einen epileptischen Anfall oder durch eine transiente Ischämie im Rahmen der lepto-meningealen Malformation durch Ischämie des darunter liegenden Cortexgebietes durch venöse Stauung. „Stroke like episodes“ bei SWS oder auch hemiplegische Migräneanfälle sind beim SWS nicht ungewöhnlich; sie müssen immer von epileptischen Anfälle durch Ableitung eines EEGs in der Akutsituation ausgeschlossen werden, wie bei unserem Patienten. In der Regel aber können Anfälle von ischämischen Attacken im Rahmen einer Migräne klinisch unterschieden werden: Kribbelparästhesien ohne sonstige begleitende Symptome wie Myoklonien oder Bewusstseinsveränderungen sprechen eher gegen einen epileptischen Anfall und für ein ischämisches Ereignis, zumal die bislang aufgetretenen epileptischen Anfälle bei unserem Patienten eine andere Semiologie hatten.
Bei der Umstellung der antiepileptischen Medikation muss einerseits die antiepileptische Wirksamkeit andererseits ein gleichzeitiges Migränebehandlungspotenzial als ideales Medikament für diese Situation gesucht werden.
Lamotrigin (LTG) hat kein Antimigränepotenzial und ist daher für eine Umstellung der Behandlung im vorliegenden Fall ungeeignet. Generell eignet sich LTG bei allgemein guter Verträglichkeit und Effizienz gerade wegen der fehlenden Gewichtsproblematik sehr gut zur antiepileptischen Therapie bei Jugendlichen.

2. Topiramat (TPM) zählt zu den neuen Antiepileptika und ist zugelassen zur Behandlung fokaler und generalisierter epileptischer Anfälle ab dem 2. Lebensjahr. Neben der guten Verträglichkeit in niedriger Dosis (1 – 2 mg/kg KG) bzw. 100 mg TPM Tagedosis empfinden Patienten mit  Gewichtsproblemen die Nebenwirkung der Appetitminderung und daraus resultierenden häufig erheblichen Gewichtsreduktion als sehr angenehm.
TPM hat neben seiner antiepileptischen Wirkung auch einen z.T. sehr positiven Effekt auf Migräne – also eine positive „Migränepotenz“. Dieser Effekt des TPM ließ sich  jetzt auch in klinischen Studien bestätigen.

3. Natürlich können prinzipiell auch spezifische Migränemittel wie die Triptane eingesetzt werden; aber sie haben keine antiepileptische Potenz und sind daher zur Behandlung der hemiplegischen Migräne mit epileptischen Anfällen ungeeignet. Insbesondere beim Vorliegen von paretischen Symptomen sollten Triptane allerdings nur mit Vorsicht verwendet werden.


Nach Umsetzen von VAL auf TPM (100 mg/ Tag) ist unser Patient seit 10 Monaten beschwerdefrei: keine epileptischen Anfälle, keine hemiplegische Migräne.
Innerhalb dieses Zeitraumes hat er sein Körpergewicht bereits um 7.7 kg reduzieren können, da unter TPM eine spürbare Appetitminderung eingetreten ist.
Wegen der ungeklärten neuropsychologischen Gesamtsituation unter TPM ist er bislang zweimal testpsychologisch untersucht worden ohne negative Veränderungen in den Ergebnissen.
Eine Wiederholung der zerebralen MRT im beschwerdefreien Intervall zeigte eine signifikante Abnahme des leptomenigealen KM – Enhancements (Abbildung 1).

Literatur

Jansen FE, van der Worp HB, van Huffelen A
Sturge – Weber syndrome and paroxysmal hemiparesis: epilepsy or ischaemia?
Developmental Med Child Neurol 2004, 46, 783 – 786

Dora B, Balkan S
Sporadic hemiplegic migraine and Sturge – Weber syndrome.
Hedache 2001, 41, 209 – 210

Ito M, Sato K, Ohnuki A, Uto A
Sture – Weber disease: operative indications and surgical results.
Brain Dev 1990, 12, 473  - 477

Abbildung 1
Zerebrale MRT mit Kontrastmittel:
Links :leptomeningeale KM-Aufnahme in der Phase eines akuten hemiplegischen Migräneanfalles;
Rechts: gleiche Untersuchung im beschwerdefreien Intervall.