Interessante Fälle

Autor/Institution:

Dr. L. Pageler

Neurologische Universitätsklinik Essen

Vorgestellt wird der Fall eines 45jährigen Patienten der im 5. Lebensjahr an Epilepsie erkrankte und seitdem unter schwer zu beherrschenden epileptischen Anfällen unterschiedlicher Semiologie leidet.

Vorgeschichte:

Durch vorbetreuende Ärzte war zu erfahren, dass  im Rahmen eines frühkindlichen Hirnschadens schon frühzeitig eine Oligophrenie erkannt wurde. Immer wieder sei über aggressive Verhaltensweise und zum Teil auch psychotisches Erleben berichtet worden. In früheren Jahren sei deswegen eine Behandlung mit Haloperidol durchgeführt worden. Der Patient besuchte die Sonderschule und lebt seit vielen Jahren in unterschiedlichen Behindertenwohnheimen.
Einem alten Arztbrief von 1993 war zu entnehmen, dass im Alter von 5 Jahren erstmals „kleine und große Anfälle“ aufgetreten seien. Die Diagnose lautete zunächst „kryptogene Epilepsie“. Die eingesetzten Antikonvulsiva führten nie zu einer vollständigen Anfallsfreiheit, bestenfalls wurde eine Anfallsfrequenz von 1-2 generalisierten Anfällen pro Woche erreicht. Im Einzelnen wurden eingesetzt: Phenytoin, Valproinsäure, Clobazam, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Tiagabin, Gabapentin, Primidon. Die Substanzen wurden allesamt in höherer Dosierung und z. T. auch in Dreifachkombinationen eingesetzt.

Aktuelle Anamnese:

Der Betroffenen leidet unter drei verschiedenen Anfallsarten:

1. Tonische Anfälle: Fast tägliches auftreten, auch mehrfach. Eine plötzlich einsetzende Tonisierung der Extremitäten führe zu Stürzen, meist auf die Knie. Hier weist der Patient auch beidseits frischere und ältere Schürfwunden auf. Er falle dann auf eine Körperseite, die Glieder seien dabei gestreckt und steif. Kloniforme Entäußerungen treten nicht auf. Oftmals komme es zu einem Zungenbiss, Enuresis wird nicht berichtet. Das Bewusstsein ist für die Dauer des Anfalles (max. 30-60 Sekunden) aufgehoben. Es bestünde eine vollständige Amnesie. Nach Sistieren der Tonisierung komme es rasch zur Reorientierung.

2. Komplex fokale Anfälle: Diese treten in einer Frequenz von 2-5  pro Woche auf. Der Patient bekomme plötzlich einen starren Blick und reagiere nicht mehr auf seine Umwelt. Es komme dann zu stereotypen Bewegungen, entweder stampfe er heftig mit dem rechten Bein auf oder er laufe im Zimmer auf und ab. Der Anfall sistiere nach 1-2 Minuten spontan, es schließe sich eine mehrere Minuten andauernde Phase von postiktaler Verwirrtheit an. An die Anfälle kann der Betroffene sich nicht erinnern.

3. (Atypische) Absencen: Mehrmals täglich käme es zu Situationen, in denen der Betroffene plötzlich in seiner Tätigkeit oder auch im Gespräch innehalte. Es trete eine langsame Blickwendung zumeist nach schräg oben auf. In dieser Phase erfolge keine Reaktion auf Reize aus der Umwelt. Nach einigen Sekunden fahre der Patient in seiner Handlung uneingeschränkt fort. Für das Ereignis besteht Amnesie.
Aktuelle Medikation:
Die antikonvulsive Therapie besteht derzeit aus Oxcarbazepin in einer täglichen Dosis von 600-0-750 mg und retardierter Valproinsäure in einer Dosis von 500-0-800 mg pro Tag. Unter dieser bislang nebenwirkungsfrei vertragenen Medikation treten die Anfälle in o. g. Häufigkeit auf.
Aufgrund der auch weiterhin auftretenden aggressiven Verhaltensweisen werde zusätzlich Risperidon 0,5 mg morgens verabreicht, die Medikation zeige eine gute Wirkung auf das Verhalten des Patienten.

Diagnostik

Im abgeleiteten EEG zeigten sich neben einer durchgehenden Theta-Grundaktivität mit linksbetonter Unterlagerung von Delta-Wellen immer wieder auftretende, z. T. über mehrer Sekunden anhaltende, generalisierte und frontal betonte1-2/Sekunde spike-wave-Komplexe (Abb.1).


Abb. 1: Für atypische Absencen typische, intermittierend auftretende, generalisierte und frontal betonte spike-wave-Komplexe mit einer Frequenz von 1-2/Sekunde

Kommentar

Die Symptomatik des Patienten erfüllt die Kriterien eines Lennox-Gastaut-Syndroms. Diese erwachsenen Patienten verharren auf dem mentalen Entwicklungsniveau eines 2-4-jährigen. Bei diesem Epilepsie-Syndrom liegt fast immer eine symptomatische Genese vor. Hierbei handelt es sich oftmals um eine diffuse Hirnschädigung, die z. B. perinatal durch Sauerstoffmangel erworben wurde („frühkindlicher Hirnschaden“) oder im Rahmen von Entwicklungsstörungen entstanden ist. Bei ungefähr 15% der Betroffenen ist keine Ursache für die Erkrankung zu finden (kryptogen). Das Erkrankungsalter liegt in der Regel zwischen dem 3. und 5. Lebensjahr, in seltenen Fällen kann das Syndrom aber auch später, bis hin zum jungen Erwachsenenalter auftreten. Die Anfälle, die im Rahmen des Lennox-Gastau-Syndroms auftreten sind in der Regel vielfältig. Im Laufe der Erkrankung können neue Anfallsarten hinzutreten, andere dagegen nicht mehr auftreten. Immer kommt es zu tonischen Anfällen, die mit Stürzen und z. T. dadurch bedingten erheblichen Verletzungen einhergehen können. Eine weitere typische Anfallsart sind atypische Absencen (1-2/s spike-wave), die von typischen Absencen (3-4/s spike-wave) nur durch das EEG zu unterscheiden sind. Auch alle anderen Anfallsarten (z. B. generalisierte tonisch-klonische Anfälle, komplex-partielle Anfälle) können in unterschiedlicher Häufigkeit auftreten.

Therapeutische Optionen

Das Lennox-Gastaut-Syndrom ist eine in fast allen Fällen nicht ausreichend medikamentös zu beeinflussende Erkrankung.

Als Medikamente der 1. Wahl gelten Lamotrigin,  Topiramat  und  Valproinsäure. Nur in seltenen Fällen kann beim Lennox-Gastaut-Syndrom dauerhafte Anfallsfreiheit erzielt werden. Die Anfallsfrequenz lässt sich durch die 3 genannten Medikamente häufig um 30-60% absenken.

Desweiteren kann in therapieresistenten Fällen bei Kindern ab 4 Jahren Felbamat in Kombinationstherapie gegeben werden. Die Substanz ist in Deutschland nur noch für diese Indikation zugelassen. Eine langsame Aufdosierung in 600 mg Schritten auf Tagesdosen von bis zu 3600 mg ist möglich. Es gilt zu beachten, dass Felbamat die Serumspiegel von Valproinsäure, Phenytoin und Carbamazepin erhöht und eine entsprechende Reduktion der Substanzen erwogen werden muss.  Auch müssen das Blutbild und die Serumtransaminasen initial alle 2-4 Wochen kontrolliert werden, da in seltenen Fällen Agranulozytosen und toxische Hepatopatien, z.T mit letalem Ausgang beschrieben wurden.

Als Methode der letzten Wahl kann operative eine Kallosotomie, also eine Durchtrennung der interhemisphärischen Bahnen vorgenommen werden. Diese Art der Therapie hat allerdings nur palliativen Charakter und gilt als ultima Ratio. Insbesondere die tonischen Sturzanfälle lassen sich hierdurch bei 70-80% der Patienten verbessern.

 

Literatur

1. Donaldson JA, Glauser TA, Olberding LS. Lamotrigine adjunctive therapy in childhood epileptic encephalopathy (the Lennox Gastaut syndrome). Epilepsia 1997;38(1):68-73.
2. Dulac O, N'Guyen T. The Lennox-Gastaut syndrome. Epilepsia 1993;34 Suppl 7:S7-17.
3. Schneble Hansjörg. Lennox-Gastaut-Syndrom. In: Fröscher, Vassella, Hufnagel. Die Epilepsien. Schattauer Verlag, Stuttgart, New York, 2004,166-174
4.  Siegel H, Kelley K, Stertz B, Reeves-Tyer P, Flamini R, Malow B, et al. The efficacy of felbamate as add-on therapy to valproic acid in the Lennox-Gastaut syndrome. Epilepsy Res 1999;34(2-3):91-7.