Interessante Fälle

Autoren / Institutionen

Dr. Thomas Mayer, Ärztlicher Direktor Sächsisches Epilepsiezentrum Radeberg

Einführung

Myoklonien sind plötzlich auftretende unwillkürliche, kurzdauernde Muskelkontraktionen (meist < 100-200 ms), die entweder als positiver Myoklonus mit Bewegungseffekt imponieren oder als kurze Inhibition tonischer Muskelaktivität auftreten (negativer Myoklonus, Asterixis). Klinisch sind Myoklonien Folgen einer Übererregung umschriebener Nervenzellpopulationen und geben bestimmten Epilepsien ihren Namen (progressive Myoklonusepilepsie, juvenile myokloinsche Epilepsie). Praktisch relevant ist in erster Linie das Erkennen physiologischer und essentieller Myoklonieformen (familiäre, benigne, nächtliche oder Einschlaf-Myoklonien) sowie die Unterscheidung zwischen epileptischen und nicht-epileptischen Myoklonien.
Myoklonien können zusammen mit anderen unwillkürlichen Bewegungsformen auftreten (z.B. Myoklonus- Dystonie, Kortikobasale Degeneration und andere akinetisch-rigide Syndrome). Die Differentialdiagnose symptomatischer Myoklonieformen ist breit. Myoklonien können im Rahmen verschiedener neurologischer Erkrankungen, z.B. zerebraler Speichererkrankungen, Intoxikationen, Neoplasien , Enzephalopathien (v.a. posthypoxisch) aber auch bei metabolischen Erkrankungen, umschriebenen Läsionen des ZNS oder bei neurodegenerativen Erkrankungen (z. B. Kortikobasale Degeneration) auftreten. Für einige wenige genetisch determinierte Erkrankungen, bei denen Myoklonien zu den führenden klinischen Symptomen gehören, sind krankheitsspezifische Mutationen nachgewiesen (z. B. familiäre Hyperekplexie (Startle Erkrankung, gesteigerte Schreckmyoklonien) mit einer Mutation im Gen für die a1-Untereinheit des Glyzinreceptors (GLRA1) (http://www.dgn.org/102.0.html)

Kasuistik:

Aktuelle Vorgeschichte:
Der 44 jähriger Patient leidet seit dem 16. Lebensjahr an komplex-fokalen, vermutlich psychomotorischen und sekundär-generalisierten Anfällen, der letzte große Anfall hätte sich im März 2004 ereignet, also 15 Monate vor Aufnahme im Juni 2005. Die Aufnahme in der zuweisenden Psychiatrischen Klinik erfolgte unter der Diagnose eines akuten Erregungszustandes, nachdem der Patient eine perakute Aggressivität entwickelt hatte. Die Mutter berichtet seit 1995 phasenweise Aggressivität und Verhaltensauffälligkeiten ihres Sohnes, 1989 bereits erste Beschreibung einer wahnhaften psychotischen Episode zunehmende kognitive Defizite, welche zu einem beruflichen Abstieg und folgender Kündigung durch den Arbeitgeber führten, seit 1995 EU-Rente, von 2001 bis 2002 Mitarbeiter in einer geschützten Werkstatt, dann aber Beendigung wegen häufiger Fehlzeiten. Bislang erfolgte keine Langzeit-Neuroleptika-Therapie, die Gründe dafür sind nicht bekannt.

Familienanamnese: Der Bruder des Patienten verstarb im Dezember 2004 aus bislang ungeklärter Ursache in einer neurologischen Klinik, er habe ebenfalls an Epilepsie sowie einer Psychose gelitten, der Vater sei vor 1995 an Darmkrebs verstorben.

Sozialanamnese: Abschluss der 10. Klasse mit guten Ergebnissen, Tätigkeit bei der Bahn, beruflicher Abstieg und Kündigung, seit 1995 EU-Rente. 2001/2002 WfB-Mitarbeiter. Aktuell lebt der Patient bei seiner Mutter. 

Medikamentenanamnese: Therapieresistenz gegenüber Primidon. Unter Levetiracetam-Valproinsäure-Kombinationstherapie sei eine Zunahme „epileptiformer Muster“ im EEG nachweisbar gewesen, unter Valproinsäure/Lamotrigin-Kombination ausgeprägter Ruhetremor, nachfolgend Umstellung auf Valproinsäure und Barbexaclon, später Primidon/Levetiracetam und Valproinsäure.
Körperlicher Untersuchungsbefund:
Kachektischer Ernährungszustand, übrige Befunde unauffällig.
Neurologischer Untersuchungsbefund:
Mäßiger Ruhetremor der Hände beidseits, Bradydysdiadochokinese beidseits, übrige Befunde unauffällig.
Psychischer Untersuchungsbefund:
Außerhalb der Anfallsereignisse wacher, eingeschränkt orientierter Patient mit ausgeprägter psychomotorischer Verlangsamung sowie Sprachverarmung, Antriebsminderung, Affektabflachung, formalen und inhaltlichen Denkstörungen, Beziehungsideen, visuellen Halluzinationen. Beeinträchtigung von Aufmerksamkeit und kognitiver Leistungsfähigkeit.
Labor: unauffällig.
Medikation bei Aufnahme : 2 x1000 mg Ergenyl chrono, 2x 600 mg Timox
Medikamentenserumspiegel bei Aufnahme:
- Valproinsäure  56,7 mg/l, 10-OH-Carbazepin  14,2 mg/l

EEG-Diagnostik:
Zu Aufnahme häufige paroxysmale generalisierte epilepsietypische Aktivität (Abb.1 und 2), zum Teil korreliert mit bilateralen myoklonischen Anfällen bei normaler Hintergrundaktivität kein Herdbefund. Photoparoxysmale Rekation bie hohen Reizfrequenzen (21, 27 Hz) Im Verlaufe dann häufige EEG-Ableitungen mit klinisch deutlichen Myoklonien ohne EEG-Korrelat (Abb.3). Ein Video1 mit einer Datei für den Windows-Mediaplayer steht zum Download bereit (ca. 600 kB).
 

Abb. 1: EEG nach Hyperventilation

Abb. 2: EEG bei Photostimulation 27 Hz.

Abb. 3: EEG während ständiger Myoklonien

Kraniales MRT
Soweit beurteilbar (Bewegungsartefakte in allen Aufnahmen), unauffälliger MRT-Befund. Kein Hinweis auf einen vaskulären, entzündlichen oder raumfordernden Prozess.

Verlauf:

Bei Aufnahme bestand eine Kombinationsmedikation aus Oxcarbazepin (1200 mg/d) und retardierter Valproinsäure (1000 mg/d). Nach Abbau der Oxcarbazepin-Medikation und einer Dosiserhöhung des Valproinsäure-Präparates kam es zu serienartig  auftretenden Myoklonien der Arme und des Oberkörpers, für die kein EEG-Korrelat gefunden wurde (Abb.3), sondern ausschließlich Artefakte erkennbar waren. Topiramat und Clobazam blieben im folgenden ohne Effekt, es kam nach einem stundenlang andauerndem Zustand von Myoklonien zu einem fokal eingeleiteten tonisch-klonischen Anfall. Dies kann als (Video2) angesehen werden (ca. 2 MB Downloadgröße).

Unter dem Verdacht, dass neben der Epilepsie die Unruhe erstes Symptom einer paranoiden Symptomatik sein konnte wurde Olanzapin bis 20 mg/d eindosiert dann, nach Zustandsverschlechterung 2 mg/d Risperidon ersetzt wurde. Es kam nun zu Angstzuständen (Todesängste), extremer Anspannung, Hyperhydrosis, über Stunden anhaltenden nicht epileptischen Myoklonien und ein nochmaliger grosser Anfall, eingeleitet wieder durch Myoklonien. Eine Bewusstseinsstörung war bei den Myoklonien nicht nachweisbar.
Im Zusammenhang mit der Neuroleptika-Medikation (Melperon, Halloperidol, Risperidon) trat eine schwere extrapyramidale Störung mit Laryngospasmus auf, die eine Verlegung auf die Intensivstation notwendig machte. Levetiracetam bis 2 g/d besserte die Myoklonien nicht, stattdessen war erst die Kombination von  Primidon (250 mg/d), Levetiracetam (2000 mg/d) und Valproat (1000 mg/d) effektiv. Wegen der ausgeprägten Angstsymptomatik wurde Paroxetin (40 mg/d) gegeben, wegen der ausgeprägten extrapyramidalen Nebenwirkungen und des fehlenden Therapieerfolges verzichteten wir auf die Gabe von Neuroleptika.

Zusammenfassung

Bei dem Patienten besteht eine kryptogene fokale Epilepsie (am ehesten frontaler Anfallsursprung) mit myoklonischen und sekundär-generalisierten tonisch-klonischen Anfällen. Beide großen Anfälle wurden eingeleitet mit einer Version des Kopfes nach rechts, was für einen linkshemispärischen Anfallsursprung spricht. Das artefaktgestörte kraniale Magnetresonanztomogramm von April 2005 wurde als unauffällig beurteilt. Das neuropsychologische Profil weist auf eine frontale Dysfunktion. Aufgrund der erhobenen psychischen Befunde, ausführlicher Fremdanamnesen und Einbeziehung von vorliegenden Epikrisen diagnostizierten wir außerdem eine paranoide Schizophrenie. Unklar bleibt, welche Ursache die nicht epileptischen Myoklonien haben und wie man sie klassifiziert. Wir vermuteten am ehesten, dass sie im Rahmen einer ausgeprägten Angst bei paranoiden Wahninhalten auftraten. Allerdings irritierte uns der zweimalige Übergang solcher Myoklonien in versiv eingeleitete große Anfälle. Auffällig war auch, dass direkt nach den großen Anfällen die Myoklonien nicht mehr auftraten.

Kommentar

Trotz aller  hochtechnisierten Diagnostik lassen sich in bestimmten Situationen die Unterschiede zwischen epileptischen und nicht epileptischen Myoklonien nicht immer treffen. Der vorliegende Fall zeigt dabei, dass es Übergänge zu geben scheint, ähnlich wie bei der Migräne und Epilepsie, bei denen ein elektroencephalographisch negativer Myoklonus in einem großen Anfall münden kann.

Literatur:

Pllock JM. Myoclonic epilepsies: syndromes and their treatment Suppl Clin Neurophysiol 2004;57:425-32.
Striano P et al. Levetiracetam in patients with cortical myoclonus: A clinical and electrophysiological study. Mov Disord. 2005 Aug 2
Fahn S, Marsden CD Van Woert MH. Definition and classification of myoclonus. In Fahn S, Marsden CD Van Woert MH (Hrsg) Advances in Neurology Vol 43: Myoclonus Raven Press New York 1-5