Interessante Fälle

Anamnese:

Eine 70-jährige Frau wurde notfallmäßig der Neurologischen Universitätsklinik in Essen zugewiesen, nachdem es zu 2 kurz aufeinanderfolgenden, generalisierten tonisch-klonischen Anfällen gekommen war. Fremdanamnestisch wurde berichtet, dass es ohne Prodomi oder Aura zum plötzlichen Bewusstseinsverlust gekommen sei. Danach sei ein initiales Stöhnen gefolgt von tonischen Verkrampfungen der Arme und Beine sowie klonischen Konvulsionen für die Dauer von 30 Sekunden gefolgt. Postiktal sei eine komatöse Bewusstseinslage für einige Minuten und hieran anschließend eine postiktale Umdämmerung für einige Stunden beobachtet worden. Die Anfälle traten im Rahmen eines grippalen Infektes auf.

Die Familienanamnese und sonstige Eigenanamnese waren unauffällig.

Später war zu erfahren, dass es im Alter von 5 Jahren zu wenige Sekunden andauernden reinen Bewusstseinsstörungen im Sinne von Absencen gekommen war. Ein weiterer generalisierter tonisch-klonischer Anfall war ebenfalls im Rahmen eines grippalen Infektes im 45. Lebensjahr aufgetreten.

Diagnostik:

Nach Aufklaren war der klinisch-neurologische wie auch der psychiatrische Untersuchungsbefund normal. Computer- und Kernspintomographie des Kopfes sowie eine Angio-CT waren regelrecht. Im EEG fanden sich bei Alphagrundaktivität schon in Ruhe paroxysmal auftretende 3-4/sec. bilateral synchrone, generalisierte und frontal betonte spike-wave-Paroxysmen von 2-7/sec. Dauer. Etwa 4-6 Paroxysmen traten innerhalb von 25 Minuten Aufzeichnungszeit auf. Unter Hyperventilation und Photostimulation kam es zu einer Provokation der Paroxysmen.

EEG:

Ein Herdbefund ließ sich nicht nachweisen.

Die Analyse des Liquor cerebro spinalis war incl. der Titer-Bestimmung neurotroper Viren unauffällig.

Verlauf:

Die Patientin wurde, wegen der Grand mal-Anfallsserie zunächst intravenös mit Phenytoin aufdosiert später auf 3 x 100 mg/Tag Phenytoin umgestellt. Hierunter ergab sich zunächst ein Diphenylhydantoinspiegel von 12 µg/ml, später wurden Spiegel um 7 µg/ml unter der gleichen Dosis bestimmt. Die Patientin gab jedoch deutliche Nebenwirkungen an. Sie fühle sich flau, habe Gedächtnisstörungen und Konzentrationsstörungen, sei müde und leide unter Rückenschmerzen. Zudem würden Gleichgewichtsstörungen bei schnellen Bewegungen hinzutreten. Ihre Stimmung sei dysphorisch subdepressiv. Wegen der Nebenwirkungen wurde eine Umstellung auf Lamotrigin 50-0-50 mg pro Tag vorgenommen. Nach 4-jährigem anfallsfreien Verlauf wurde auf 25-0-50 mg Lamotrigin/Tag erniedrigt. Im EEG waren parallel dazu zwischen 4 und 9 generalisierte spike-wave-Paroxysmen von 2-6 Sekunden Dauer nachweisbar. Trotz dieser EEG-Auffälligkeiten wurde schrittweise innerhalb der nächsten 3 Jahre bis auf Lamotrigin 25-0-0 mg/Tag erniedrigt, ohne dass es zum Auftreten weiterer Anfälle kam. Auffällig war zuletzt jedoch eine über 6 Monate bestehende therapieresistente Konjunktivitis, die möglicherweise eine Nebenwirkung darstellte. Weitere potentielle Nebenwirkungen wurden nicht angegeben.

Kommentar:

Der vorliegende Fall ist unter zweierlei Gesichtspunkten interessant. Zum einen wird dokumentiert, dass trotz deutlicher EEG-Veränderungen der Verlauf idiopathisch generalisierter Epilepsien mit generalisierten tonisch-klonischen Anfällen und Absencen blande im Sinne einer Oligoepilepsie sein kann. So traten Absencen nur im Vorschulalter und Grand mal-Anfälle nur unter zusätzlicher Provokation durch einen grippalen Infekt auf.

Der zweite interessante Aspekt ist, dass diese Epilepsien mit einer nur sehr niedrigen Dosis eines Mittels der ersten Wahl hier Lamotrigin (z. B. Lamotriax) behandelbar sind. Da die Patientin nach dem Auftreten der zwei Grand mal-Anfälle ein hohes Sicherheitsbedürfnis hatte wurde erst spät und allmählich reduziert. Es ist eine klinische Erfahrung, dass Oligoepilepsien mit einer Langzeit-niedrig-therapie behandelbar sind und die Patienten hierunter vollständig anfallsfrei verbleiben können. Die Minimaldosierung von 25 mg Lamotrigin pro Tag wurde belassen, da einerseits das EEG weiterhin auf eine deutliche Anfallsbereitschaft hinwies und zum anderen nicht ausgeschlossen werden konnte, dass selbst blande Infekte zum Wiederauftreten von tonisch-klonischen Anfällen führen könnten.

Literatur:

Ernst JP. Generalisierte Anfälle, Absence-Anfälle. In: Fröscher W, Vassella F, Hufnagel A (Hrsg), Die Epilepsien - Grundlagen, Klinik, Behandlung, Schattauer Verlag, Stuttgart, New York, 2004, 107-109

Trinka E. Absences in adult seizure disorders. Acta Neurol Scand Suppl. 2005;182:12-8.