Interessante Fälle

Thomas Mayer-Sächsisches Epilepsiezentrum Radeberg

Einleitung

Anfallsfreiheit ist ein ganz wesentliches Ziel in der Behandlung von Epilepsien und dies ist mit moderner medikamentöser Therapie auch bei ca. 60% der Patienten erreichbar (Kwan, Brodie 2000). Die Epilepsiechirurgie hat hohe Erwartungen geweckt in bezug auf Anfallsfreiheit, nicht nur für die Patienten, die medikamentös bislang nicht anfallsfrei wurden. Aber auch hier werden nicht alle, sondern nur 50-80% der Patienten (abhängig von Lokalisation, Ätiologie, Dauer der Epilepsie, Begleiterkrankungen u.a.) anfallsfrei.
Zufriedenheit mit der Behandlung hängt zwar auch von Anfallsfreiheit (Thorbecke 2001, Hermann u. Wyler, 1989) ab, aber Persönlichkeits-Faktoren (Chovaz et al. 1994) beeinflussen die Zufriedenheit ebenso wie  Erwartungen der Menschen mit Epilepsie in bezug auf Partnerschaft, Beruf, Wohnung (Wheelock 1998, Thorbecke 1997). Außerdem sind Wünsche nach Unabhängigkeit und die Erlangung des Führerscheins, nach sportlichen Aktivitäten (insbesondere Schwimmen), Erlangung und Erhalt eines Arbeitsplatzes, Gewinn von sozialen Kontakten, erfüllte Partnerschaft und erfülltes Sexualleben nicht ausschließlich abhängig von der Anfallsfreiheit (in Wolf et al., 2003).

Kasuistik:
M.H. ist 33 Jahre alt, wohnt in der Oberlausitz in einem kleinen Ort nahe Bautzen. Vor der Diagnose und Operation eines Oligoastrozytoms Grad II fronto-parietal (2002)  hatte sie ihren ersten Anfall sozusagen als Tumormanifestation am 15.04.2002, als man sie bewusstlos in Badewanne auffand, ohne dass ihr etwas passierte, anschließend war sie für 2 Jahre anfallsfrei. Der zweite Anfall trat 26.06.2004 auf und war vermutlich ein tonisch-klonischer Anfall aus dem Schlaf heraus. Der dritte Anfall ereignete sich im Juli 2004 als tonisch-klonischer Anfall. Anschließend erlitt sie alle zwei Monate Anfälle, bei denen sich ruckartig der Kopf nach links drehte, dann folgte eine tonische Streckung der oberen Extremitäten, verbunden mit komischem Gefühl im Brustkorb, dabei vermutlich Einschränkung des Bewusstseins. Diese Anfälle ereigneten sich meist abends. Es traten lediglich Bagatellverletzungen (zumeist im Gesicht) auf, sie nässte nicht ein, kein Zungenbiß,  Dauer: 2-3 min. Die Patientin hatte keine Vorgefühle, auch keine anfallsbegünstigenden Faktoren, was ihr eine Vorhersage von Anfallsereignissen unmöglich machte.

Familienanamnese:
Oma mütterlicherseits nach einem Unfall wahrscheinlich einfach fokale Anfälle. Uroma mütterlicherseits evtl. im Rahmen einer psychotischen Episode suizidiert.

Eigenanamnese:
subjektive Gedächtnisprobleme, ansonsten außer Epilepsie und Operation des Tumors unauffällig

Neurologischer Befund:
unauffällig

Psychischer Befund:
bewusstseinsklar, zu allen Qualitäten orientiert, Stimmung gedrückt, aber auflockerbar, Antrieb gemindert, Affekte eingeengt, gute Schwingungsfähigkeit, formales Denken unauffällig, inhaltlich eingeengt auf Tumorerkrankung, Kindesverlust und Kinderwunsch, Angst vor Rezidiv, kein psychotisches Erleben,, bricht bei Erwähnung der erfolglosen Schwangerschaft in Tränen aus, kann Angst und Sorge vor einem Tumorrezidiv nur nonverbal mitteilen

EEG:
Standardableitung - altersentsprechendes Alpha-EEG, Schlafableitung - seltene sharp-waves frontozentral rechts bzw. rechts betont sowie diskrete intermittierende Verlangsamung re > li frontozentral  (S. Abb.1)

MRT (2005):
Bekannter postoperativer Parenchymdefekt im Gyrus frontalis superior paramedian rechts. Tumorrest in Gyrus cinguli und den Truncus corporis callosi reichend, kein Tumorwachstum

Medikamentenanamnese:
06/2004 Ersteinstellung auf Oxcarbazepin (OXC)-Monotherapie mit max. 1200 mg/d, darunter weiterhin „kleine“ Anfälle. 08/2004 Kombinationsbehandlung OXC und Lamotrigin (LTG), darunter Auftreten eines blasenbildenden Exanthems der Handinnenflächen unter einer LTG-Dosis von 50 mg/d und OXC 600 mg/d 10/2004  Kombinationsbehandlung OXC 1800 mg/d und Levetiracetam (LEV) mit 500 mg/d.

Sozialanamnese:
Die Patientin lebt in fester Partnerschaft, hat eine Tochter, es besteht weiter Kinderwunsch. Sie lebt mit dem Partner in einem gemeinsamen Haus, hat feste Nachbarschaftskontakte. Der Partner unterstützt, ist aber zugleich überfordert. Sie hat eine Ausbildung nach Abschluss der 10. Klasse zur Facharbeiterin für chemische Produktion absolviert, anschließend eine Ausbildung zur Polizistin im mittleren Dienst, ist nun Beamtin im Polizeivollzugsdienst, nach Erziehungsurlaub im Ermittlungsdienst tätig. Nach dem Anfallsrezidiv 2004 erfolgte eine Krankschreibung, nach deren Ende sie nun eine Tätigkeit im Innendienst (Wiedereingliederung) hat. Ihr größter Wunsch ist der Verbleib in der Tätigkeit beim Ermittlungsdienst, eine reine Verwaltungstätigkeit ist in ihren Augen keine Polizeiarbeit mehr, sie würde sich dadurch degradiert fühlen. Sie hat den Kfz-Führerschein, zur Zeit ist sie nicht fahrtauglich und fährt auch nicht. Sie ist im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit einer GdB von 80.
Im Verlauf der sozialmedizinischen Beratung wurde zunächst an der Erarbeitung einer Strategie zur Wiedereingliederung in ihren Beruf (stufenweiser Wiedereinstieg) gearbeitet. Die Aushändigung einer Einschätzung zur Diensttauglichkeit an Polizeipräsidium Dresden beinhaltete die Empfehlung für Innendiensttätigkeit, denn bei aktiver Epilepsie ist das Tragen einer Dienstwaffe nicht erlaubt.

Ambulante Vorstellungen
 22.06.2005:

  • Aktuelle Anfallssituation: 1/Monat, einfach fokal (Verlust der Kontrolle über Kopf, Bewusstsein erhalten, Drehung zur linken Seite)
  • Wunsch nach Wiedereinstieg in Beruf, Innendiensttätigkeit aufgrund der Anfälle nicht erwünscht, da sozial störend
  • Medikation: Trileptal 600 - 300 - 600 mg, Keppra 1250 - 0 - 1250 mg, Aufdosierung von Keppra auf 2 x 1500 mg/d ab dem 23.06.05

02.09.2005:

  • Aktuelle Anfallssituation: ein isolierter Anfall am 20.07.05, seither anfallsfrei
  • Medikation: Trileptal 600 - 300 - 600 mg, Keppra 1500 - 0 - 1500 mg
  • EEG: keine besonderen Auffälligkeiten

26.10.2005:

  • Aktuelle Anfallssituation: zwei einfach-fokale Anfälle mit längerer Dauer 09/05
  • Wiedereinstieg in Beruf geplant
  • Medikation: Behandlungsversuch mit Topamax 2 x 50mg, Reduzierung Trileptal auf 2 x 600 mg und Keppra auf 2 x 1000 mg
  • Neuropsychologie: EpiTrack (Gesamtscore unauffällig)

17.12.2005:

  • Aktuelle Anfallssituation: November 1-malig, Dezember 2-malig Anfälle, ein Anfall als  rotatorischer Anfall nach links
  • Medikation: Topamax 50 – 0 – 100 mg, Trileptal auf 2 x 600 mg und Keppra auf 2 x 1000 mg
  • Neuropsychologie: durchschnittliche bis teilweise überdurchschnittliche Ergebnisse
  • EEG: ohne epilepsietypische Wellen

02.02.2006:

  • Aktuelle Anfallssituation: 1-2 pro Monat einfach-fokale Anfälle mit Kopfwendung nach links, verlässliches Vorgefühl, rechtzeitiges Insicherheitbringen möglich
  • Medikation: Topamax 100 – 0 – 100 mg, Trileptal auf 2 x 600 mg und Keppra auf 2 x 1000 mg

Soziale Perspektive: berufliche Wiedereingliederung seit 01/06 bis voraussichtlich 06/06, momentan Ermittlungsdienst (Innendienst), nach Beendigung der Wiedereingliederung für den Verwaltungsdienst vorgesehen, nach Aussagen des Vorgesetzten bei anhaltender Anfallssituation kein Bürgerkontakt möglich, große Angst vor Versetzung in Verwaltungsdienst, psychisches Wohlbefinden sichtlich mit der zukünftigen beruflichen Tätigkeit verbunden, arbeitsmedizinische Empfehlung an Polzeipräsidium Dresden (keine Bedenken für Ermittlungsdiensttätigkeit und Bürgernahe Arbeit), Vermittlung Kontakt Integrationssamt

22.02.2006:

  • Aktuelle Anfallssituation: unverändert
  • Berufliche Tätigkeit: geplantes Gespräch mit Vorgesetztem im März, Kontakt zum Schwerbehindertenvertreter (schwierige Situation hinsichtlich Beamtenstatus - Sonderregelungen) und zum Integrationsamt.

Zusammenfassung:
Die Kasuistik soll verdeutlichen, welchen Stellenwert die komplexe sozialmedizinische Beratung einer Patientin mit einer therapieschwierigen Epilepsie hat. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wird diese Patientin ihre alte Tätigkeit nicht wieder aufnehmen können, dennoch ist durch den steten Kontakt zum Epileptologen, der Sozialarbeiterin und dem Psychologen möglich, die Patientin so zu stabilisieren, dass sie alle weiteren Schritte schafft, um im Arbeitsleben zu verbleiben. Natürlich bleibt unsicher, ob sich der Tumor noch verändert und wie sich die Epilepsie entwickelt. Eine wesentliche Voraussetzung für den optimalen Verlauf ist aber die ambulante Unterstützung in Verbindung mit stabiler häuslicher Situation.

Literatur:

  1. Batzel LW, Dodrill CB (1984) Neuropsychological and emotional correlates of marital status and ability to live independently in individuals with epilepsy. Epilepsia 25, 594-598
  2. Beckun E, Uvebrant P (1997) Impairments, disabilities and handicaps in children and adolescents with epilepsy. Acta Paediatrica 86, 254-260.
  3. Chovaz CJ, MAcLachlan RS,Derry PA, Cummings RL (1994) Psychosocial function following temporal lobectomy: influence of seizure control and learned helplessness. Seizure. 3(3):171-6.
  4. Hauser WA, Hesdorffer DC (Hrsg) (1990) Epilepsy: frequency, causes, and consequences. Epilepsy Foundation of America, Maryland.
  5. Hermann BP, Wyler AR (1989) Depression, locus of control, and the effects of epilepsy surgery. Epilepsia. 30(3):332-8..
  6. Kwan P, Brodie MJ (2000) Early identification of refractory epilepsy.
    N Engl J Med. 3, 342(5),314-9t
  7. Sozialgesetzbuch, www.sozialgesetzbuch-Bundessozialhilfegesetz.de.
  8. Steinmeyer HD, Werner C (1992). Rechtsfragen bei Epilepsie. Hamburg, Stiftung Michael.
  9. Thorbecke R (1994) Lebensqualität bei Menschen mit schwerer Epilepsie. Epilepsie-Blätter 7, 3-12.
  10. Thorbecke R (1998) Schwerbehindertenausweis. Neue Anhaltspunkte zur Festlegung des Grades der Behinderung. Epilepsieblätter 11, 33-34.
  11. Thorbecke R, Specht U (2005) Berufliche Rehabilitation bei Epilepsie. Med Sach 101 (1) 22-32
  12. Wheelock I, Peterson C, Buchtel HA (1998) Presurgery expectations, postsurgery satisfaction, and psychosocial adjustment after epilepsy surgery. Epilepsia, 39(5), 487-94
  13. Wolf P, Mayer Th, Specht U, Thorbecke R, Pfäfflin M, Boenigk HE (Hrsg). Praxisbuch Epilepsien. Kohlhammer Verlag Stuttgart, 2003

Abb: 1 und 2.: