Interessante Fälle
Prof. Dr. Jürgen Sperner, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Campus Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck
Telefon: 0451/5002605
Fax: 0451/5006064
E-mail: sperner@paedia.ukl.mu-luebeck.de
Internet: www.uk-sh.de
Vorgeschichte:
Ein 6 Jahre altes, bis dato vollkommen unauffälliges Mädchen war um 21.45 Uhr kurz nach dem Einschlafen wieder aufgewacht und hatte ihre Eltern um Hilfe gerufen, da sie nichts mehr sehen könne. Sie wirkte ansonsten vollkommen unauffällig. Der herbeigerufene Notarzt stellte einen kompletten Sehverlust fest. Ca. 40 Minuten später war das Mädchen bei Ankunft in der Notfallambulanz des Krankenhauses spontan wieder unbeeinträchtigt sehfähig. Darüber hinausgehende Symptome wurden nicht geschildert. Es war keine Notfallmedikation appliziert worden. Die darauf folgenden klinischen Untersuchungen waren incl. Kernspintomographie des Kopfes, Liquor cerebro-spinalis, VEP, augenärztlichem Konsil und psychosomatischem Konsil sowie laborchemischer Untersuchungen auf Borrelien und neurotropen Viren vollkommen unauffällig.
Im EEG (Abbildung 1 und 2) fand sich bei unauffälliger Grundaktivität eine gelegentliche Theta-Delta-Verlangsamung über der hinteren Schädelhälfte sowie occipito-parietal bds. vereinzelt erkennbare sharp-wave, sharp-slow-wave- und spike-wave-Komplexe.
Verlauf:
Das Mädchen wurde zunächst ohne Therapie wieder entlassen. Ein zweites nahezu gleichförmiges Ereignis wurde 5 Wochen später beobachtet. Wieder war das Kind kurz nach dem Einschlafen wieder aufgewacht und beklagte einen kompletten Sehverlust sowie Augenschmerzen. Nachdem es während 10 Minuten zu keiner Besserung gekommen war, applizierten die Eltern Diazepam rektal. Bereits 1-2 Minuten später berichtete das Mädchen, dass es seine Eltern wieder erkennen könne. Der neurologische Untersuchungsbefund war erneut unauffällig.
Weitere 4 Wochen später kam es zu einem dritten Ereignis, welches gleichförmig verlief und ebenfalls mit Diazepam-Gabe nach 1-2 Minuten zur Wiederkehr der Sehfähigkeit führte. Das Kind wurde daraufhin auf Carbamazepin (18 mg/kg Körpergewicht) eingestellt und verblieb im bisherigen Verlauf von 5 Monaten vollständig anfallsfrei. Demgegenüber konnte im EEG kaum eine Verbesserung erkannt werden.
Kommentar:
Der hier resümierte Fall entspricht den Charakteristika einer Occipitallappen-Epilepsie (OLE). Schon von Gowers wurde 1885 ein ähnlicher Fall, mit visuellen Halluzinationen und passagerer Amaurosis beschrieben. Weiteren Kasuistiken war in der Folge zu entnehmen, dass ca. 50% der OLE Ausdruck einer symptomatischen, unterlagernden Hirnerkrankung sind. Es werden positive visuelle Symptome, mit hellen Blitzen, Flecken, Funken sprühen, Kontur- und Farbveränderungen von negativen Symptomen wie Skotomen, Hemianopsie und Amaurosis unterschieden. Die Prognose ist bei den idiopathisch kryptogenen Formen besser, als bei den symptomatischen Formen. Während bei der idiopathischen Form ca. 80% der Patienten anfallsfrei werden können, sind es bei der symptomatischen Form nur 50%.
Von Gökcay et al 2002 werden 3 Formen der occipitalen Epilepsie bei Kindern unterschieden, nämlich die kindliche Epilepsie mit occipitalen Paroxsymen, die idiopathische photosensitive occipitale Epilepsie und die symptomatische occipitale Epilepsie.
Differentialdiagnostisch muss bei den symptomatischen Formen auch an Missbildungssyndrome wie das Sturge-Weber-Syndrom gedacht werden.
Literatur:
Gökcay et al. Occipital epilepsies in children. EUR J Paed Neurol 2002;6:261-268
Bilder: