Interessante Fälle

Dr. Frank Kerling, Epilepsiezentrum (ZEE), Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen

Einführung: Bei Patienten über 65 Jahren ist das Risiko an Epilepsie zu erkranken höher als in jeder anderen Altersgruppe. Bei älteren Menschen findet sich eine Reihe von Therapieproblemen, die durch einen veränderten Metabolismus und Begleiterkrankungen entstehen können. Der folgende Fall soll dies illustrieren.

Falldarstellung:
Frau Dorothea S., geb. 1938, stellt sich mit ihrem Sohn erstmals in der  Ambulanz vor. Sie berichtet, dass sie vor 18 Monaten eine Hirnblutung rechts erlitten habe und seither eine linksseitig gelähmt sei. Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes lebe sie nun im Pflegeheim. Etwa 6 Monate nach dem Ereignis sei es erstmals zu einem Zucken im linken Arm mit Ausbreitung in Gesicht und Bein gekommen. Nach einer Dauer von 1-2 Minuten hörten die Anfälle auf, es folge ein Zustand mit Erschöpfung und Schmerzen in den betroffenen Extremitäten. Erst zweimal sei ein kompletter Bewusstseinsverlust aufgetreten.

CT der Patientin zum Zeitpunkt der Blutung

In den Arztberichten wird erwähnt, dass wegen der Anfälle mit einer Behandlung mit Carbamazepin begonnen wurde. Auch unter Aufdosieren kam es nicht zu einer ausreichenden Kontrolle und es traten weiterhin etwa alle 6 Wochen Anfälle auf.  Unter der Dosis von 1500mg Carbamazepin entwickelte die Patientin dann Doppelbilder, Übelkeit und Schwindel, so dass sie zunächst mit V.a. Hirnstamminfarkt in unsere Klinik aufgenommen wurde. Die dort gemessene Blutkonzentration von Carbamazepin betrug 17µg/ml, weshalb Frau S. nach einer Dosisreduktion um 600 mg mit der Diagnose einer Carbamazepin-Intoxikation entlassen wurde und eine Anmeldung in  unserer Epilepsieambulanz erfolgte.
Weitere Anamnese: Als zusätzliche Vorerkrankungen bestehen eine arterielle Hypertonie (Behandlung mit ACE-Hemmer und Diuretikum) sowie eine Hypothyreose.

Neurologischer Befund:
Spastische Hemiparese links, Patientin nur mit Hilfe gehfähig.

Labor:
Blutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte ohne relevante Auffälligkeiten

EEG (siehe untere Abbildung):
Alpha-EEG, Verlangsamungsherd rechts frontotemporal, dort auch epileptiforme Aktivität.

Weiterer Verlauf:
Bei der Patientin wurde Topiramat auf 75 mg pro Tag aufdosiert und Carbamazepin mit 900 mg pro Tag beibehalten. Die Patientin ist 1Jahr später weiterhin komplett anfallsfrei und berichtet über eine gute Verträglichkeit.


Kommentar:
Patienten mit Altersepilepsie (= Erstmanifestation nach dem 65. Lebensjahr) zeigen aufgrund ihres veränderten Stoffwechsels schneller Intoxikationszeichen. Sowohl die renale als auch die hepatische Metabolisierung ist reduziert. Deshalb sind bei älteren Patienten niedrigere Zieldosen anzustreben (Faustregel etwa 50% der Dosis junger Erwachsener).  Ein weiteres Problem stellt die Multimorbidität dar, die meist zu einer Polytherapie führt. Deshalb sind Substanzen mit einem hohen Interaktionspotential wie die enzyminduzierenden Substanzen Carbamazepin, Phenobarbital und Phenytoin weniger günstig. Die neueren Substanzen haben hier offensichtliche Vorteile. Allerdings werden ältere Patienten in den Medikamentenstudien bisher zu wenig berücksichtigt. Immerhin wurde im letzten Jahr eine randomisierte doppelblinde Studie bei Erstbehandlung von Altersepilepsie publiziert (1). Verglichen wurden die Substanzen Carbamazepin, Gabapentin und Lamotrigin. Während es bei der Anfallskontrolle zwischen den drei Medikamenten keine Unterschiede gab, waren Gabapentin und vor allem Lamotrigin deutlich besser verträglich und es kam seltener zu Therapieabbrüchen. Ein Überblick der aktuellen Studiensituation bei älteren Patienten findet sich bei Leppik et al (2). Zu Topiramat bei Altersepilepsie existieren noch keine randomisierten doppelblinden Studien, Ergebnisse aus offenen Studien (siehe auch 2) lassen jedoch eine gute Wirksamkeit und Verträglichkeit vermuten. Oxcarbazepin ist bei älteren Patienten wegen der oft massiv auftretenden Hyponatriämie besonders in Kombination mit Diuretika eher zurückhaltend einzusetzen. Levetiracetam ist derzeit (Juni 2006) nur zur Kombination zugelassen zeigt aber ebenfalls ein günstiges Profil, die Monotherapiezulassung soll im Herbst 2006 erfolgen. Für die anderen neueren Substanzen (Pregabalin, Tiagabin, Vigabatrin, Felbamat, Zonisamide) besteht keine Zulassung zur Monotherapie, wobei Vigabatrin, Felbamat und mit Einschränkung Tiagabine wegen ihres Nebenwirkungsprofils auch in Kombination nur noch sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden sollten.

In unserem Fall strebten wir eine Topiramat-Monotherapie an. Frau S. lehnte allerdings eine Änderung der Therapie ab, weil sie Angst vor neuen Anfällen hatte. Insgesamt war die Verträglichkeit der Medikation weiterhin gut.


Literatur:
(1) Rowan AJ et al. New onset geriatric epilepsy. A randomised study of gabapentin, lamotrigine and carbamazepine. Neurology 2005 ;64 :1868-73

(2) Leppik IE, Brodie MJ, Saetre ER, Rowan AJ, Ramsay RE, Jacobs MP. Outcomes research: Clinical trials in the elderly. Epilepsy Research 68S(2006):71-6

(3) Stefan H et al. Wirksamkeit und Verträglichkeit von Topiramat in der Behandlung von älteren Patienten mit Epilepsie – Ergebnisse einer klinischen Prüfung. Z Epileptol 2006 ; 19 :154