Interessante Fälle
Dr. Frank Kerling, Epilepsiezentrum (ZEE), Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Erlangen, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen
Einführung: Manche Patienten lassen sich, insbesondere in der Initialphase der Betreuung, diagnostisch nicht eindeutig einem Epilepsiesyndrom zuordnen. Daraus können sich Schwierigkeiten bei der Therapie ergeben
Falldarstellung:Der dreißigjährige kaufmännische Angestellte Andreas P. stellt sich erstmals in unserer Epilepsieambulanz vor. Er berichtet über erstmals mit 24 Jahren aufgetretene Anfälle ohne Vorgefühl mit Zuckungen an Armen und Beinen sowie gelegentliches Einnässen und Zungenbisse. Eine tageszeitliche Bindung bestehe nicht. Bereits zwischen dem 8. und 11. Lebensjahr seien „Aussetzer“ aufgetreten, weshalb eine Behandlung mit Valproinsäure begonnen worden war. Mit dieser Therapie konnte Anfallsfreiheit erzielt werden und die Medikation wurde mit 14 Jahren langsam ausgeschlichen. Aufgrund dieses guten Ansprechens wurde mit 24 Jahren erneut mit einer Valproinsäuretherapie begonnen. Diesmal konnte auch bei einer Dosis von 1500mg (Valproinsäure i.S. 90 µg/ml) keine zufriedenstellende Anfallskontrolle erreicht werden und der Patient klagte über Nebenwirkungen in Form von Gewichtszunahme und Tremor. Jährlich traten bis zu 6 Anfälle auf.
Neurologischer Befund: unauffällig, Rechtshänder, 180 cm, 90kg
Labor: Blutbild, Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte ohne relevante Auffälligkeiten
Das mitgebrachten extern durchgeführte MRT wurde als unauffällig befundet. Bei der Nachbefundung in der Neuroradiologie wurden eine Asymmetrie der Temporalhörner ohne sichere Hippocampussklerose sowie allgemein weite Liquorräume beschrieben.
EEG (siehe untere Abbildung): Alpha-EEG, bifrontal irreguläre Spike waves
Weiterer Verlauf: Wegen der bereits deutlichen Nebenwirkungen wurde auf eine Steigerung der Valproinsäuredosis verzichtet. Es wurde eine Umstellung auf eine Topiramat-Monotherapie begonnen, wobei die Dosis bis zur endgültigen Anfallsfreiheit auf 350 mg pro Tag angehoben wurde. Unter dieser Medikation sind nun seit 2 Jahren keine Anfälle mehr aufgetreten und Herr P. verspürt keine Nebenwirkungen, das Gewicht hat sich mit derzeit 80kg nahezu normalisiert.
Kommentar: Bei diesem Fall erwies sich besonders die Diagnose des Epilepsiesyndroms als schwierig. Das EEG und auch das MRT waren nicht absolut typisch für eine idiopathisch generalisierte Epilepsie. So zeigten sich im EEG bifrontal betonte irreguläre Spike-wave, wie sie durchaus auch bei einer Frontallappenepilepsie auftreten können. Im angeblich „unauffälligen“ MRT fanden sich eine Atrophie und eine Asymmetrie der Temporalhörner, bei einer idiopathisch generalisierten Epilepsie sollte sich normalerweise eine unauffällige Bildgebung zeigen. Insofern gab es eine gewisse Unsicherheit ob es sich nun um ein fokales oder generalisiertes Epilepsiesyndrom handelte. Diese Situation der Unsicherheit findet sich auch bei Erwachsenen in bis zu 37% lässt sich keine eindeutige Diagnose des Syndroms stellen (1). Deswegen sollte in einem solchen Fall eher ein breitwirksames Antikonvulsivum eingesetzt werden. Gemäß den Leitlinien der DGN kommen hierfür neben Valproat Topiramat und Lamotrigin in Frage (siehe auch unter www.dgn.org). Auch Levetiracetam und Phenobarbital sind breit wirksame Substanzen. Allerdings existiert für Levetiracetam noch keine Monotherapiezulassung und Phenobarbital kommt v.a. wegen der Sedierung nicht in die engere Wahl. Weiterhin bemerkenswert an dem Fall ist das auswärtig als unauffällig befundete MRT. Die Problematik falsch negativer MRTs ist weit verbreitet. So konnte von v. Oertzen (2) gezeigt werden, dass ein Großteil von sogenannten unauffälligen MRTs bei Nachbefundung durch erfahrene Neuroradiologen dann doch Auffälligkeiten aufwies oder die in Praxen durchgeführten MRTs schlichtweg nicht die Kriterien der Epilepsiediagnostik erfüllten. Deshalb lohnt es sich das Original MRT vom erfahrenen Neuroradiologien nachbefunden zu lassen. Technisch unzureichende MRTs sollten mit dem Epilepsieprotokoll wiederholt werden.
(1) Manford M. The National General Practice Study of Epilepsy. The syndromic classification of the International League Against Epilepsy applied to epilepsy in a general population. Arch Neurol 49(1992):801-8.
(2) Von Oerzten J, Urbach H, Jungbluth S, Kurthen M, Reuber M, Fernandez G, Elger CE. Standard magnetic resonance imaging is inadequate for patients with refractory focal epilepsy. J Neurol Neurosurg Psychiatry 73(2002):643-7